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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Hintergrund verharren und auf ihre Stunde warten. Wenn über Radio Bengasi ein utopisches Programm der neuen alten Männer der Übergangsregierung verkündet wird – Gleichheit zwischen Arm und Reich, zwischen Männern und Frauen, zwischen Ost- und Westlibyen –, so verliert die Führungsmannschaft zusätzlich an Autorität und Glaubwürdigkeit.
    Am Ende wird sich doch alles an den Rivalitäten oder den Übereinkünften der hundertvierzig Stämme und deren Clans entscheiden, die der gestürzte Diktator geschickt gegeneinander auszuspielen verstand. Die wichtigste dieser tribalen Formationen bilden die Warfalla mit einer Million Menschen, die weit über das nationale Territorium verstreut leben. Das heiß umkämpfte Réduit der geschlagenen »Loyalisten« im trostlosen Städtchen Bani Walid, das etwa 170 Kilometer im Südosten von Tripolis gelegen ist und dessen 70000 Einwohner sich von karger Landwirtschaft ernähren, genießt als Ursprungsort der Warfalla eine besondere Bedeutung. Danach kommen die Qadhafa, denen – wie der Name besagt – Muammar el-Qadhafi angehört. Man schätzt sie auf 125000 Menschen. Ihr Siedlungs- und Nomadisierungsraum reicht von der Hafenstadt Sirte, dem geographischen Trennungspunkt zwischen West und Ost, zwischen Cyrenaika und Tripolitanien, bis tief in den Süden zur Verwaltungshauptstadt Sebha der Fezzan-Region.
    Sirte, der Geburtsort des »brüderlichen Führers«, war in den ver­gangenen Jahrzehnten in jeder Hinsicht privilegiert worden. Seine Stammesbrüder leisten ja auch den verbissensten Widerstand gegendie »Thuwar«. Ganz anders wiederum waren die Kämpfe um die drittgrößte Stadt der Jamahiriya, um den Hafen Misrata verlaufen. Misrata inszenierte einen fulminanten Aufstand gegen den ­Tyrannen, wurde dann aber von dessen Truppen wochenlang belagert und nur über die See versorgt. Nach ihrem Einmarsch in Tripolis übten dort die Misrati nach Abzug der Berber die Funktion von Ordnungshütern aus. Sie kamen recht und schlecht mit den ­lokalen Revolutionskomitees zurecht, die trotz der Urbanisierung weitgehend ihren ethnischen Zusammenhalt bewahrt hatten.
    Neben den vielen arabisierten Völkerschaften und den Berbern sind in den Oasen des tiefen Südens die Tubu zu erwähnen, die an die Republik Tschad grenzen und schon unter der französischen Kolonialverwaltung als besonders wilde, kriegerische Rasse gefürchtet waren. Größere Bedeutung haben allerdings die Kamel­reiter der Tuareg gewonnen. In ihren indigofarbenen Gewändern, die stets das Gesicht verhüllen, lehnten diese Hamiten sich gegen die von schwarzen Sudanesen regierten Sahel-Staaten Burkina Faso, Niger und Mali auf. Sie bemächtigten sich weiter Territorien und kidnappten eine Anzahl französischer Geiseln. Dank ihrer zunehmenden Bindung an eine salafistische Bewegung, die sich »El Qaida des islamischen Maghreb« nennt, fühlte sich die Militärjunta von Algier unmittelbar herausgefordert. Aus den Reihen der Tuareg hatte Qadhafi paradoxerweise seine zuverlässigsten Söldner rekrutiert, auf die seine Familie sich bei eventueller Flucht durch die Tibesti-Wüste glaubte verlassen zu können.
    Der Islam drängt nach Süden
    Was hatte nun Frankreich und Großbritannien – die USA verhielten sich zögerlich, und die Bundesrepublik büchste vollends aus – bewogen, sich in den libyschen Wirrwarr so nachhaltig einzumischen? Offiziell ging es um die Rettung der aufbegehrenden Zivil­bevölkerung,tatsächlich stand die Rebellion vor dem Zusammenbruch. In Bengasi, Derna und Beida hätten die Berufssoldaten und Söldner Qadhafis ein abscheuliches Blutbad angerichtet, wenn nicht die Luftwaffe der Entente-Mächte den Panzerkolonnen des Diktators das Rückgrat gebrochen hätte. Man sprach überall von »Sarkozys Krieg«, und die französischen Streitkräfte gewannen im Pentagon ein Ansehen, das seit der schändlichen Niederlage von 1940 irreparabel geschädigt schien. Es ging natürlich bei diesem Eingriff auch um Erdöl und Erdgas. Auf den ersten Treffen der großen Petroleumkonzerne lagen jetzt Total und BP besser im Rennen als manche traditionelle Konkurrenten. Doch ganz sollte man nicht ausschließen, daß bei diesem riskanten Einsatz auch heroische Reminiszenzen eine Rolle gespielt haben.
    Für die

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