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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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überschwemmten und die Annexion des bislang spanischen Küstenstreifens der West-Sahara am Atlantik ohne Blutvergießen vollzogen.
    Würde sein Sohn, Mohammed VI., in einer Stunde der Bedrängnisund zur Stärkung seiner Position dem Vorbild seines Vaters folgen und ein ähnliches Aufgebot gegen die winzigen spanischen Besitzungen am Mittelmeer, die »Presidios« von Ceuta und Melilla, versammeln, um die letzten Relikte europäischer Kolonialpräsenz in Afrika, auf die Rabat stets Anspruch erhob, seinem Staat einzugliedern? Madrid scheint fest entschlossen zu sein, an seinen Presidios festzuhalten, aber die uneinige Europäische Union sähe sich in einen Konflikt involviert, dessen tragischer Ausgang vorgezeichnet ist. An den »Säulen des Herkules«, wie es im Altertum hieß, an der Straße von Gibraltar könnten eines Tages die Warnsignale flackern. Wir wollen nicht unnötig dramatisieren, aber an dieser Stelle hatte im Jahr 711 der Feldherr Tariq Ibn Sijad mit seinem Berber-Heer übergesetzt, um Spanien – auf arabisch »El Andalus« – für den Islam zu erobern.

Sudan
    Der amputierte Staat
    Im Sandsturm
    Khartum-Kushti, März 2010
    Amspäten Morgen ist Sandsturm aufgekommen. Dem abscheulichen Winter Europas entronnen, hatte ich am Vortag in Khartum noch den schmerzhaft blauen Himmel und sogar die Hitze von vierzig Grad als Wohltat empfunden. Aber jetzt legt sich der Wüstensturm wie ein schmutzig-gelber Schleier, dann wie eine braune Düsternis auf die platte Landschaft beiderseits des Weißen Nils. Auch wenn die Temperatur sich mäßigt, bleibt das Atmen erschwert. Die Baumwoll- und Zuckerrohrfelder, die immer wieder von blanken Dünen unterbrochen werden, verschwimmen zu einer monochromen Masse.
    Die Sicht auf die Asphaltstraße, die nach Süden führt, schwindet so sehr, daß die Fahrzeuge, die uns mit überhöhter Geschwindigkeit entgegenbrausen, ihre Scheinwerfer voll aufblenden, um eine Karambolage zu vermeiden. Wahre Monster von dreißig Meter Länge, mit prallen Baumwollsäcken überfrachtet, drängen uns immer wieder an die Böschung. Im Gegensatz zu vielen orientalischen Ländern sind die Laster hier nicht knallbunt bemalt. Aber keiner der Wüstenfahrer verzichtet auf den Segensspruch »ma scha’ Allah – wie Allah es will«, um seine Ergebenheit in den Willen Gottes zu bekunden.
    Meineursprüngliche Absicht, den Vorstoß nach Süden bis zu dem Städtchen Kodok auszudehnen, das man früher einmal Faschoda nannte, würde sich unter diesen klimatischen Bedingungen nicht realisieren lassen. Mir steht auch nicht der Sinn nach einer Erkundungstour durch tausend Kilometer trostloser Eintönigkeit. Allenfalls würden die Felder beiderseits des Nils etwas mehr grüne Vegetation aufweisen, spärliche Nahrung für die Herden von Rindern und Ziegen. In dem Maße, wie wir auf den Knotenpunkt Malakal vordringen, nähern wir uns auch schon der Konfliktzone, wo die muslimischen Regierungstruppen von Khartum auf den Widerstand der tiefschwarzen, heidnischen Niloten vom Volk der Nuer stoßen.
    Die Dörfer, die wir passieren, gleichen sich – mit ihren grauen Lehmhütten, den aufdringlich häßlichen Reklameschildern und den Wahlplakaten, die fast ausschließlich für die Bestätigung des Präsidenten Omar el-Bashir an der Spitze der Republik Sudan werben – zum Verwechseln. Der Diktator hat dabei seine Generalsuniform abgelegt, präsentiert sich wohlwollend lächelnd in der üblichen Landestracht der sudanesischen Muslime, in wallender, weißer Galabieh und hoch aufgeschichtetem Turban. Die Moscheen, die nirgendwo fehlen, ducken sich unter verschnörkelte Minaretts, klägliche Nachahmungen der glanzvollen Fatimiden-Architektur der fernen, ehemals schiitischen Kalifats-Metropole Kairo. Lediglich die grellen Gewänder der Frauen leuchten aus dem Dunst. Die Konturen zwischen Erde und Himmel haben sich aufgelöst. Die grandios strömende Wassermasse des Weißen Nils wird durch das fahle Licht in einen unappetitlichen, milchigen Brei verwandelt.
    Die Fahrt geht dennoch zügig voran an Bord des recht strapazierten, robusten Landrovers, den mir die Regierung des Sudan zur Verfügung stellte. Der Fahrer heißt Feisal, ein athletischer Mann mittleren Alters mit relativ hellem Teint. Er ist höflich, verschlossen und

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