Arabiens Stunde der Wahrheit
abgeleitet und für Muslime bindend bleibt.« Die Scharia sollte aber nicht als eherner Kader auf das Festhalten am Buchstaben reduziert werden, sondern als die Summe der sozialen und religiösen Umgangsformen neue Bedeutung gewinnen. Die Menschheit könne nicht auf eine starre, vor 1400 Jahren konzipierte Rechtsordnung fixiert werden, die den Bräuchen und der Gesellschaftsordnung der damaligen Epoche entsprach. »Islamismus bedeutet für mich eine Neubelebung des Geistes und des Verstandes, eine umfassende Erneuerung der ewigen islamischen Werte«, so lautet die Quintessenz seinerInterpretation, die er vermutlich in einer Gefängniszelle entworfen hat.
Ich versuche erst gar nicht, mich in den erlauchten Dialog islamischer Religionsdeutung einzumischen, obwohl ich einwenden könnte, daà der Streit um die AusschlieÃlichkeit der buchstabentreuen koranischen Befolgung fast so weit zurückreicht wie die frühe Verkündung des Propheten. Ihren Höhepunkt erreichte diese erbitterte Auseinandersetzung mit den sogenannten »Muâtaziliten«, die sich auf die Lehren des altgriechischen Philosophen Aristoteles beriefen und sich im Bagdad des neunten Jahrhunderts um eine Synthese von Glaubensinbrunst und menschlicher Vernunft bemühten. Dort hatte der Erbe Harun el-Raschids, der Abbassiden-Kalif Maâmun, die Bedeutung des Aristoteles so hoch eingeschätzt, daà er ihm den Titel eines »muâallim el awal« â des ersten und bevorzugten Lehrmeisters â verlieh.
Die Intoleranz der christlichen Orthodoxie von Byzanz hatte nicht nur die Götterwelt der Antike ausgelöscht, sondern auch die auÃergewöhnliche intellektuelle Leistung der klassischen helleÂnischen Philosophie mit Bannfluch belegt. Schon im vierten Jahrhundert â nach dem Scheitern des vom Christentum abgefallenen Kaisers Julian Apostata â sahen sich die unverzagten Anhänger altgriechischer Kultur gezwungen, in Ktesiphon, der damaligen Hauptstadt des persischen Sassaniden-Reichs, Zuflucht zu suchen. Dort wurde zwar der Feuerkult des Zarathustra bis zur arabisch-islamischen Eroberungsschlacht von Qadissiya zelebriert, das geistige Erbe des antiken Hellas jedoch sorgsam aufgelistet und an die koranischen Wissenschaftler weitergereicht.
Die Kultur der Abbassiden von Bagdad stand von Anfang an unter dem Einfluà persischer Dichter, Künstler und Mystiker, und so gewannen die Thesen des Aristoteles â Schüler Platos und Präceptor Alexanders des GroÃen â auch Gehör bei einer muslimischen Elite Mesopotamiens. Diese Phase der Muâtaziliten war von kurzer Dauer. Die arabischen Korangelehrten, die »Ulama«, sahen in diesen philosophischen Spekulationen eine gefährliche Häresie, die es auszurotten galt. Die Reaktion der »Rechtgläubigen« war unerbittlich.Sobald der Kalif Maâmun, dieser Leugner der wortwörtlichen Akzeptanz des »Quran el karim«, durch Giftmord beseitigt war, erstarrte der sunnitische Islam bis in die Neuzeit in der bedingungslosen Unterwerfung unter die geschriebene Ãberlieferung. Die Jünger des Predigers Ibn Taimiyas, eines extremen Eiferers des religiösen Rigorismus, proklamierten kategorisch, daà der Islam allein die Lösung sämtlicher menschlicher Probleme aufzeige, daà alle menschliche Weisheit und Wissenschaft in der wörtlichen Ãbernahme der Botschaft Mohammeds enthalten sei.
»Alles steht im Koran«, so lautete der dogmatische Grundsatz. Der Argwohn der sunnitischen Schriftgelehrten gegen jede Abweichung vom Urtext ging so weit, daà die Ãbersetzung des Korans in fremde Sprachen suspekt erschien. Die intellektuelle Abschirmung wurde später durch das strikte Verbot der Buchdruckerei garantiert, die die protestantische Reformation im Abendland entscheidend gefördert hatte. Diese Abkapselung wurde durch das osmanische Kalifat beibehalten bis zu dem Tag, als nach der Landung Napoleons in Ãgypten die »schwarze Kunst« des Meister Gutenberg aus Mainz auch im Niltal Einzug hielt und der säkularen Emanzipation einen ersten Spalt öffnete.
Die groÃen kulturellen Strömungen folgen oft seltsamen Windungen. So hatte sich in Spanien, auf arabisch »El Andalus«, nach der Eroberung durch die Mauren ein omayyadisches Teil-Kalifat erhalten. Die Abbassiden von Bagdad übten hier keine Autorität aus, ebenso wenig wie im »Maghreb
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