Arabiens Stunde der Wahrheit
bezog, unerbittlich angewandt worden. Im Heiligen Krieg, den neben dem Mahdi, dem Kalifen von Omdurman, auch der Eroberer Osman Dan Fadio und seine berittenen Fulbe-Krieger im heutigen Nigeria führten, wurden die heidnischen schwarzen Stämme des Südens zwangskonvertiert. Eine Verweigerung dieser Bekehrung wurde durch Versklavung oder brutale Vernichtung geahndet.
Natürlich zitiert Turabi jenen »Ayat« des Korans, wonach es »im Glaubenkeinen Zwang« gebe. Er verweist auf das GroÃreich der Mogul-Kaiser von Indien, dessen kulturelle Blüte und Pracht sich auf die selektive Harmonie zwischen Muselmanen und Hindus gründete, obwohl letztere die Vielgötterei auf die Spitze trieben, sich in die Anbetung einer Unzahl von Idolen und Dämonen verirrt hatten und einem obszönen Pantheon huldigten.
Die Offenbarung des Propheten, so doziert der »Docteur« der Sorbonne, müsse in mancher Hinsicht aus dem Geist seiner Zeit erklärt werden, aus den Bräuchen einer Nomaden- und Hirtengesellschaft. Bei aller Ehrfurcht vor der Unantastbarkeit des Korans müsse die Lehre auf dem Wege des »Ijtihad« der Realität der Gegenwart angepaÃt werden. So verhalte es sich zum Beispiel mit der Gesetzgebung für die Frauen, deren Zeugnis vor Gericht nur die Hälfte der Aussage eines Mannes wert sei und die in Fragen der Erbschaft benachteiligt würden. Zu Zeiten Mohammeds habe seine Rechtsprechung in einer archaischen Gesellschaft, in der die Frau über keinerlei juristische Ansprüche verfügte und weder für die Witwen noch für die Waisen gesorgt wurde, einen geradezu revolutionären, fortschrittlichen Durchbruch bewirkt.
Zudem habe der sunnitische Glaubenszweig in einer Epoche, als in Europa die feudalistischen Adelsprivilegien vorherrschten und eine streng hierarchisierte Kaste von Klerikern die ausschlieÃliche Deutung der Religion beanspruchte, auf jede Form von Priesterschaft oder Aristokratie verzichtet. Zu dem Verschleierungszwang der muslimischen Frauen befragt, entgegnet Turabi, eine rigorose Verhüllung der Weiblichkeit entspreche in keiner Weise den ÂGeboten des Korans und erscheine ihm als willkürlich und obÂsolet.
Von einer Nachahmung des westlichen Lebensstils könne jedoch nicht die Rede sein. Das Wort Christi, »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist«, mache keinen Sinn in einer Glaubensgemeinschaft, die in allen Dingen auf Gott ausgerichtet ist. Eine strikte Trennung von Religion und Staat â »din wa dawla« â ist für ihn nicht akzeptabel. Ob die Re-Islamisierung der Türkei, die sich zur Zeit unter Ministerpräsident Recep Tayyip ErdogËan vollziehtund den Gedanken an das Kalifat wieder aufleben läÃt, seinen Hoffnungen entspricht, kann ich nur vermuten. Immerhin war das osmanische Sultanat gegenüber seinen ethnischen und religiösen Minderheiten weit toleranter gewesen als die europäisch beeinfluÃten Jungtürken der Neuzeit oder die Ideologen jener Nachfolgestaaten im Orient, deren regionaler Nationalismus zum Konzept der universalen islamischen »Umma« in krassem Widerspruch stand.
Der Irrweg vieler westlicher Orientalisten bestehe darin, daà die einen den sehr unterschiedlichen Tendenzen der islamischen ErÂweckung, der »Nahda«, die eigenen Konzepte von Säkularismus und Laizismus oktroyieren wollten, während die anderen einer schwärmerisch verklärten Vision der Mystiker und Sufi anhingen, die in hoher dichterischer Form auf die Verschmelzung des Individuums mit der Allgegenwart Gottes hinstrebt. Turabi hält nicht viel von den Heilsbringern der Derwisch-Orden oder Turuq, deren Ãbungen sich ja nicht im Dhikr, in der unaufhörlichen Betonung der Einzigkeit Gottes, erschöpfen, sondern oft von Scharlatanen manipuliert werden und â unter dem Einfluà von afrikanischem Aberglauben â, in schamanistische Rituale zu entarten drohen.
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Eine kurze Teepause verschafft mir endlich die Gelegenheit, mein Hauptanliegen anzubringen, eine Thematik, der jenseits aller theologischen Spekulationen meine wirkliche Aufmerksamkeit und Neugier gilt. Scheikh Hassan el-Turabi hatte in den Jahren 1992 bis 1996 mit einem politischen Flüchtling aus Saudi-Arabien namens Osama Bin Laden engen Kontakt gehalten. Er ist ein authenÂtischer Zeuge und gehört nicht zu jenen Analysten, die sich auf vage Vermutungen, oft auch auf
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