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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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beunruhigt. Auch bei diesem Gespräch fällt mir auf, wie gering der Sicherheitsaufwand dieses »Alim« ist, dem Ibrahim as-Zayat als potentiellem Erneuerer der erstarrten koranischen Doktrin mit Respekt begegnet. Der einzige Leibwächter, der uns ein frugales orientalisches Mahl und Tee serviert, hält sich während des Gesprächs auf Abstand. Das ausgebeulte Jackett deutet auf das Tragen einer schweren Handfeuerwaffe hin.
    ScheikhTurabi hat sich im jüngsten Wahlkampf bei den Regierenden höchst unbeliebt gemacht. Die von el-Bashir konzedierte Volksabstimmung über die eventuelle Sezession des Südens grenzt in seinen Augen an Landesverrat. Zudem genießt Turabi die Unterstützung einer der aktivsten Aufstandsbewegungen des Darfur und hat – zu allem Überfluß – dem Präsidenten geraten, sich im Interesse des Landes dem Internationalen Gerichtshof von Den Haag zu stellen. Nach dem Urnengang würde er mit seiner Verhaftung rechnen, sagt der Scheikh, womit er übrigens recht behalten sollte, aber diese Perspektive scheint ihn mit zusätzlicher Heiterkeit zu erfüllen. Er hat insgesamt sieben Jahre im Gefängnis verbracht, amüsiert er sich, aber man habe ihm in seiner Zelle die Möglichkeit gelassen, wissenschaftlich zu arbeiten. Besser als dort habe er sich nicht den ständigen Telefonanrufen und ungebetenen Besuchern entziehen und auf seine Schriften konzentrieren können. Er betrachtet diese Zwangsisolation im Rückblick als einen durchaus positiven Lebensabschnitt.
    Noch bevor ich eine Frage anbringen kann, entspinnt sich zwischen Turabi und meinem Begleiter Ibrahim eine angeregte ­Diskussion über aktuelle theologische Streitfragen. Im Gespräch entsteht von diesem sudanesischen »Faqih« ein ganz anderes, nuan­cierteres Bild als das von ihm im Westen entworfene. Turabi bekennt sich ausdrücklich zu einer religiösen Erneuerung der koranischen Dogmatik, für die er das Wort »Revivalism« benutzt. Er verweist in unaufhörlich sprudelnder Aussage darauf, daß den frommen Muslimen die Möglichkeit des »Ijtihad« offenstehe. Damit ist die Bemühung des einzelnen gemeint, die unverrückbare Offenbarung Mohammeds durch respektvolle Interpretation und Deutung den Erfordernissen der Neuzeit und einer unaufhaltsamen Globalisierung anzupassen.
    Er zögert nicht, alle jene Fundamentalisten herauszufordern – ob sie sich nun als Wahhabiten, »Usuliyin« oder Salafisten bezeichnen –, die den Koran als einzige Quelle menschlicher Erkenntnis, als das ungeschaffene Wort Allahs von Ewigkeit her verehren und jede Anpassung an eine seit dem Tod des Propheten zutiefst veränderteWelt als Abweichung vom rechten Weg verurteilen. In diese Kategorie sind übrigens auch die tumben, theologisch unbedarften »Taleban« Afghanistans einzureihen, die nicht nur durch die eifernden Wahhabiten-Prediger aus Saudi-Arabien radikalisiert wurden, sondern sich auf die extrem strenge Lehre der Deoband-Universität in Nordindien berufen, deren Eiferer im neunzehnten Jahrhundert die Sepoy-Revolte auslösten und das britische Empire vorübergehend ins Wanken brachten. In Zukunft könnte die Masse der islamischen Bürger der Indischen Union – auf bald zweihundert Millionen Menschen geschätzt – die »größte Demokratie der Welt« in schwere Bedrängnis bringen.
    Man sollte die großen Debatten über die politischen und theologischen Fragen, die die islamische Welt heute bewegen und spalten, aus unmittelbarer, intimer Nähe erleben. Zwar bezeichnet sich Turabi selbst als »Islamisten«, aber Attentate und blinde Gewalt weist er von sich. »Sehe ich etwa aus wie ein Terrorist?« fragt er mit dem Lächeln, das aus seinem Gesicht nie verschwindet. In den frühen neunziger Jahren, als sein Einfluß noch bedeutend war, hatte er die koranische Gesetzgebung, die »Scharia«, natürlich beibehalten. Aber im Gegensatz zu dem Ex-Präsidenten General Numeiri, der dem Buchstaben der Schrift gemäß Diebstahl mit Handabhacken und Ehebruch mit Steinigung sühnte, hat er auf extreme Grausamkeiten verzichtet. Die Christen und Animisten des Südens genossen unter ihm einen relativ erträglichen Sonderstatus.
    Â»Scharia«, so doziert der Scheikh, »heißt ›Weg‹ und beschreibt eine bestimmte, alles umfassende Lebensnorm, die aus dem Koran

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