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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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26 Jahre alt. Ich empfinde für ihn eine spontane Sympathie. Er ist im Gegensatz zum Indigo-Blau seiner Umgebung in ein weißes, wallendes Gewand gehüllt und trägt einen schwarzen Turban. Die Haare wachsen buschig und zerzaust. Der kurze Backenbart umragt ein hageres, kühnes Gesicht. Seine Stimme – er spricht fließend Französisch – klingt unerwartet hell, und jedes Mal, wenn er das Wort ergreift, spiegeln sich naive Verwunderung und verschmitzte Heiterkeit in den Augen dieses ungewöhnlichen Partisanenführers.
    Die Nomaden der West-Sahara haben seit Menschengedenken keine dauerhafte Bleibe besessen. Sie waren mit ihren Herden den Wolken gefolgt in der Hoffnung, daß ein gnädiger Regenguß die Dürre und Öde vorübergehend mit spärlichem Grün überziehen würde. Diese Menschen gehören überwiegend dem Stamm der Rgibat an, für den der Krieg ein männliches Alltagsgeschäft war; sie schwärmen am Lagerfeuer von Überfällen, »Rezzu« und Scharmützeln. »Männer der Wolken« nennt man die Rgibat. Die Mauren der West-Sahara, die seit ihrer Bekehrung zum Islam und dem Eindringen versprengter arabischer Gruppen im Gegensatz zu den meisten Algeriern und Marokkanern ein fast reines Arabisch, den Hassania-Dialekt, sprechen, bewegen sich in ihren blauen Gewändern wie biblische Gestalten.
    Es ist keine gewaltige Heerschar, die Sayed el-Wali vorzustellen hat,aber die Beduinen, die sich zwanglos um ihn scharen, sind Krieger aus Leidenschaft und Veranlagung. Der islamische Glaube und seine Gottergebenheit verleihen ihnen unbegrenztes Beharrungsvermögen. In dieser vegetations- und menschenleeren Einöde wird der maoistische Lehrsatz des Volksbefreiungskrieges, dem zufolge der Partisan in der Bevölkerung zu leben habe wie der »Fisch im Wasser«, scheinbar ad absurdum geführt. Doch die Männer lauern in der Sahara wie der Skorpion im Wüstensand.
    Der Konflikt um diesen Gebietsstreifen längs der Atlantikküste dauert seit Jahrzehnten an. Zwischen Algier und Rabat ist man sich in der Zwischenzeit keinen Schritt nähergekommen. Gegen die Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario, die sich gegen die Annexion der einst spanischen Sahara durch Marokko zur Wehr setzt, hatte die Armee des Königs Hassan II., dann dessen Sohn Mohammed VI. einen hohen Sandwall errichtet, dessen Minenfelder feindliches Eindringen erschweren. Die Thesen, auf die sich die Kämpfer der Polisario stützen, sind auf zahlreichen internationalen Tribünen hinreichend vorgetragen worden. Vor ihrem Abzug aus der West-Sahara hatten die Spanier der maurischen Bevölkerung des Sakhiet el Hamra und des Rio de Oro zugesagt, daß Madrid sich auf das demokratische Selbstbestimmungsrecht berufen und – je nach Ausgang des Referendums – für die staatliche Unabhängigkeit der »Sahrawi« einsetzen würde. So lautete auch eine Geheimabsprache, die General Franco in seinen letzten Herrschaftstagen mit Präsident Boumedienne von Algerien getroffen hatte.
    Statt dessen hatte die spanische Armee ihre ehemalige Besitzung überstürzt geräumt, als König Hassan von Marokko breite Massen seiner Untertanen zum »Grünen Marsch« nach Süden mobilisierte. Rund 350000 Marokkaner – Junge und Alte, Männer und Frauen – hatten sich im November 1975 zunächst mit Lastwagen und Bussen, dann zu Fuß in Bewegung gesetzt. Es war zu einem Sturm nationaler und religiöser Begeisterung gekommen, und der umstrittene Monarch von Rabat hatte aus dieser Atmosphäre patriotischer Einstimmigkeit politisches Kapital geschlagen. Er erschien seinen Untertanen plötzlich wieder als »Amir el Mu’minin«, als Befehlshaberder Gläubigen, in dessen Namen die Freitagspredigt in den Moscheen gehalten wird.
    Ãœber den waffenlosen Kolonnen des »Grünen Marsches« flatterten die roten Fahnen mit grünem Stern in der ockergelben Wüste. In den Händen hielten die eifernden Bekenner, diese frommen Expansionisten des Groß-Marokkanischen Reiches, das Buch der Offenbarung, den Heiligen Koran. Alle Parteien, sogar die erbittert­sten Gegner des Königs, hatten sich um den Thron geschart. Selbst die kleine Schar des Kommunistenführers Ali Yata äußerte sich ­militant zugunsten des Anschlusses der West-Sahara an das Scherifische Mutterreich. Was konnten die spanischen

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