ARALORN - Der Verrat (German Edition)
gehalten. »Das ist keine Magie«, sagte er verblüfft.
»Nein«, entgegnete Aralorn wartend.
»Er lebt.«
»Das ist das Geheimnis des Labyrinths«, stimmte sie ihm zu.
Sodann zeichnete sie mit dem Finger eine einfache Rune auf den Granitbrocken. Wie zuvor bei dem Sandstein erschien ein Richtungspfeil, umrahmt von einer feinen Linie aus Katzensilber. Er wies quer über die Berge.
Während sie der bezeichneten Richtung folgten, war Wolf auffallend schweigsam. Aralorn überließ ihn seinen Gedanken und konzentrierte sich auf die Umgebung. Die Steine waren manchmal schwer zu finden. Sie war so damit beschäftigt, unter Büsche und Sträucher zu sehen, dass sie fast an dem etwa hüfthohen Felsen vorbeigelaufen wäre, der so deplatziert wie ein Wolf im Schafstall direkt auf ihrem Weg lag.
»Obsidian«, stellte Aralorn sachlich fest und strich mit der Hand über die schwarze, glasartige Oberfläche. Dieser zweite Stein würde für Wolf sein. Zuerst verwunderte sie die vom Labyrinth getroffene Wahl; sie hatte irgendwie mit Hämatit gerechnet – der stand für Krieg und Erzürntheit. Doch die Steine des Labyrinths hatten tiefer geschaut und Wolfs Natur so klar und deutlich erkannt wie die ihre. Er mochte die Maske des Zorns auf seinem Gesicht tragen, doch sein Herz war umschlossen von Gram.
»Der hier ist deiner«, erklärte sie ihm, für den Fall, dass er nicht wusste, wofür der Stein stand. »Obsidian, der Stein der Trauer. Alle übrigen, die wir finden, betreffen dann uns beide zusammen.«
»Trauer?«, fragte Wolf nach.
»Ja«, erwiderte Aralorn. »Wie das Labyrinth als Ganzes, können dir auch diese ersten Steine eine Menge erzählen. Sie werden dir ein bisschen über dich selbst verraten und darüber, wie du im Augenblick lebst – sofern du das, was sie sagen, richtig interpretierst. Was mich betrifft, so hab ich die Botschaften des Labyrinths oft ignoriert, aber du kannst es ja gern mal versuchen. Berühr für ein oder zwei Minuten den Stein, und er wird zu dir sprechen.«
Er zögerte einen Moment, dann stellte er sich neben den Stein und lehnte sich an ihn. »Ich bin mir nicht sicher, ob das hier so klug ist. Ich hab noch nie viel von Prophezeiungen gehalten.«
»Mmm. Wie ich schon sagte, es ist keine Vorhersage von Dingen, die noch nicht eintreten werden. Eher eine Art Bestandsaufnahme, wer du momentan bist. Ganz abgesehen davon sind sie nicht unfehlbar.«
Es verging eine Weile. Dann trat er schließlich beiseite. Er sagte nichts, also fragte sie ihn auch nicht, was er gesehen hatte. Stattdessen zeichnete sie mit dem Finger die gleiche Rune wie zuvor auf den Stein, und auf dessen oberer Hälfte erschien abermals ein Pfeil. Dieser schickte sie in einem flachen Winkel bergab.
»Die nächsten Steine sind weniger persönlich und dazu gedacht, dir zu helfen, deine nahe Zukunft vorherzusehen – manchmal. Das Vokabular der Steine ist ziemlich begrenzt. Meistens präsentiert es uns lediglich Eigenschaften, die wir besitzen oder die uns fehlen.«
»Nicht sehr hilfreich«, sagte Wolf.
Aralorn grinste. »Na ja, ich hab mich sowieso nur selten darum geschert.«
Während der nächsten paar Stunden wanderten sie von einem Stein zum anderen, fanden Serpentin für Scharfsinnigkeit, Quarz für Glück und Malachit für Lust (bei diesem Stein konnte sich Aralorn ein Kichern nicht verkneifen). Irgendwann machten sie sich über das Salzfleisch und den Käse in Aralorns Provianttasche her. Als die Sonne ihren Zenit erreichte, kraxelten sie den Weg hinab, den der Malachit für sie ausgewählt hatte. Der Stein, auf den sie kurz darauf stießen, war Amethyst, Schutz gegen Böses. Als sie zu einem zweiten und dann noch zu einem dritten Amethyst kamen, begann Aralorn sich allmählich Sorgen zu machen.
»Ich frag mich, ob die Steine uns überhaupt passieren lassen«, sagte sie, im Schnee neben dem melonengroßen Kristall kauernd. »Könnte sein, dass sie es sich anders überlegen, wenn sie denken, dass wir Unheil bringen.«
»Möchtest du, dass ich hier warte?«, fragte Wolf sanft. »Vielleicht kommst du ja alleine besser voran.«
Als ihr bewusst wurde, dass er sie offensichtlich falsch verstanden hatte, hob sie eine Augenbraue. »Mag ja sein, dass Amethyst vor Bösem schützt, aber die Steine haben dich bereits beurteilt und dir Trauer zugewiesen. Würden sie mit dir so streng ins Gericht gehen wie du selbst, hättest du es niemals bis hierher geschafft.«
»Dann bist du aber ein ziemliches Risiko eingegangen, nicht
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