ARALORN - Der Verrat (German Edition)
überall.«
Aralorn steckte sich die kalten, klammen Hände unter ihre Pullover, um sie aufzuwärmen, während Wolf hin und her huschte und den Abschnitt absuchte, den sie gerade eben hinter sich gelassen hatten. Sie hatte ihre Handschuhe ausgezogen, um den Schnee beiseitezuschieben, der unter der Nachmittagssonne zu tauen begann. Sie waren bereits zu weit gereist, um zu riskieren, dass ihre Handschuhe nass wurden. Als sie ihre Finger wieder spüren konnte, fummelte sie die Handschuhe aus ihrem Gürtel und streifte sie sich über.
»Sag mal«, meinte sie schließlich, als er keinen Sandstein zu finden schien, »sind die Kristalle an deinem Stab nicht aus Quarz?«
»Du meinst, ich sollte ihn dir überlassen, damit du mit einem von ihnen einen Zauber wirken kannst«, entgegnete er, ohne seinen Blick vom Boden zu heben, »aber irgendwie bin ich da in letzter Zeit etwas argwöhnisch geworden. Ah, hier ist welcher.«
Aralorn bückte sich, um den glatten gelblich-braunen Stein aufzuheben, den Wolf ausgebuddelt hatte, und rubbelte ihn mit ihrem Umhang vom Schmutz frei.
»Sandstein steht für Beharrlichkeit«, sagte sie, »Quarz dagegen für Glück. Deshalb hab ich auch zuerst nach Quarz Ausschau gehalten: Ich fürchte fast, wir werden die Nacht hier oben verbringen.«
Belustigt verengte Wolf seine Augen zu Schlitzen. »Wenn du auf König Zufall setzen willst, hätte ich da ein paar Opale für dich.«
»Besten Dank, verzichte«, meinte Aralorn. »Pech kann ich nun wirklich nicht brauchen.«
Sie hielt den Stein in ihrer geschlossenen Hand und hob den Arm bis auf Höhe ihrer Schultern. Indem sie ihre Augen schloss, begann sie sodann zu singen. Das Lied, das sie ausgesucht hatte, war ein Kinderlied in der Sprache ihrer Mutter – obwohl die Worte für die Magie keine Rolle spielten; es ging lediglich um den Klang der Musik, die der Schlüssel zur Welt ihrer Mutter sein würde.
Allmählich, beinahe scheu, durchdrang sie das Bewusstsein des sie umgebenden Waldes. Sie konnte den Winterschlaf spüren, der die Vegetation umfing; wachsame Neugier beäugte sie in Form einer Schwalbe von einer morschen Zeder herab; der Bach wartete auf den Frühling, damit er weitermurmeln konnte, dem fernen Ozean entgegen. Dann endlich fand sie, wonach sie gesucht hatte, streifte den Strom von Magie, der den ganzen Wald durchzog. Als sie sicher war, dass sie ihn ausgemacht hatte, hörte sie auf zu singen und gestattete es dem Allbewusstsein, von ihr zu gleiten. Sie schaute auf den Stein in ihrer Hand und erblickte, kurz, ganz kurz nur, einen Pfeil.
»Als hätte ich’s geahnt«, grummelte sie. »Wir müssen die Bergflanke rauf.« Sie teilte Wolf mit, was sie gesehen hatte, und warf den Stein, da er seinen Zweck erfüllt hatte, wieder auf den Boden. »Ich hätte ein paar Quarze von zu Hause mitnehmen sollen. Irrenna hat meine gehorteten Zauberinitiatoren bestimmt nicht angerührt.«
»Das Labyrinth hätte auch anders sein können?«, fragte Wolf, neben ihr herschreitend, als sie sich den Berg hinauf in Bewegung setzte.
»Es ist immer anders«, erwiderte Aralorn. »Die Magie, die ich gewirkt hab, um den Anfang des Labyrinths zu finden, funktioniert nur mit Sandstein oder Quarz – irgendjemand hat das wohl drollig gefunden, nehme ich an. Du weißt doch: ›Nur mit Glück oder Beharrlichkeit wirst du die verborgene Zuflucht im Herzen der Berge finden.‹ Genau die Art von Gesülze, die Geschichtenerzähler so lieben. Ich bevorzuge es, mit Glück anzufangen.«
Von unten hatte die Bergflanke unwegsamer ausgesehen, als sie war, ein ungewöhnliches Vorkommnis nach Aralorns Erfahrung. Andererseits hätte sie den Stein um ein Haar übersehen, wie er dort mitten in einem Dutzend anderer großer Felsbrocken lag.
»Gut«, sagte sie, bog abrupt von ihrem Weg hangaufwärts ab und schlug einen steilen Kurs nach unten ein, der sie schlitternd und rutschend zu einem Haufen Granitbrocken brachte. »Das Labyrinth erinnert sich an mich.«
»So?«
Aralorn nickte und legte die Hand auf einen Felsen, der sie nochmals um die Hälfte ihrer eigenen Größe überragte und doppelt so breit war wie sie. »Dieser Stein ist der erste. Der Identitätsstein – bei mir war das stets Granit.«
»Granit für Ausgleich oder Vermischung«, knurrte Wolf.
»Genau«, erwiderte sie lächelnd. »Vermischung – das bin ich. Du musst ihn ebenfalls anfassen.«
Sachte berührte Wolf den Stein mit der Pfote und zog sie jäh wieder zurück, als hätte er sie in eine Kerzenflamme
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