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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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können – die Zweifel hören auf, die Fragen beginnen. Seitenflügel, vierter Stock? Sind Sie allein zu Haus? Können Sie die Tür öffnen? Ja klar, Mann, so weit kommt das noch, daß ich meine Tür nicht öffnen kann. “In fünf Minuten sind wir da.” Das gibt mir Zeit, mich halb liegend, halb sitzend anzuziehen, anhaltend froh über das Bewußtsein einer höheren Ordnung, einer im Hintergrund arbeitenden und sinnreich von Menschen für Menschen erdachten Maschine, mit der einer lebensbedrohlichen Situation routiniert und regelkonform begegnet werden kann. Man möchte so was nicht in Marokko erleben. Eigentlich nicht mal in Italien.

    Was nicht mehr geht, ist Schleife binden. Der Sanitäter bindet mir die Schuhe, während seine Kollegin mich in der Senkrechten hält und ich an die Papptafel in der Vorschule denken muß. Auf der Papptafel hundert bunte Schleifchen, unter jedem Schleifchen ein Name, obendrüber groß: “Meine erste Schleife”. Wie lange ist das her?

    Ich bestehe darauf, mein Kopfkissen mitzunehmen, da ich zuletzt im Bundeswehrkrankenhaus den ganzen Tag ohne daliegen mußte. Dann an der Schulter des Sanitäters vier Treppen runter.

    Im Krankenhaus wird ein CT gemacht, und ich liege im Bett, als Dr. S. kommt und mir das CT zeigt und von einer Raumforderung spricht. Ich frage, ob wir das Wort nicht besser durch Tumor ersetzen wollen, aber er bleibt, wie auch die anderen Ärzte in den folgenden Tagen und Krankenhäusern, lieber bei Raumforderung. Ich strecke meine Hand wortlos nach hinten, er ergreift sie und drückt sie einige Sekunden. Es folgt das MRT.

    Ich bitte, einen Telefonanruf machen zu können. In meinem Portemonnaie ist ein kleiner Zettel mit Nummern, den ich mir vor vielen Jahren gemacht habe, bevor ich ein Handy hatte. Das letzte habe ich in Marokko verloren. Fast alle Nummern auf dem Zettel sind veraltet. Irgendwo Holms Handynummer, den ich anrufe und bitte, C. zu informieren. Als ich später noch einmal bei Holm anrufen will, kann ich trotz stundenlanger Suche die Nummer nicht mehr finden. Mein Portemonnaie, ein paar kleine Zettel und Karten und mein Schlüsselbund auf dem Krankenhaustischchen machen mich in ihrer Unübersichtlichkeit fast verrückt.

    Das Bundeswehrkrankenhaus hat eine Kooperation mit dem Klinikum Friedrichshain, dorthin werde verbracht, mein Neurochirurg dort wird Prof. Moskopp.

    Ich kriege sofort Besuche, und Holm erweist sich als das, was er schon immer war und was ich in den letzten Jahren, wo wir uns weniger gesehen haben, fast aus den Augen verloren hatte, als mit allen Eigenschaften des besten Freundes vorbildlich ausgestattet. Er leitet alles in die Wege und kümmert sich um alles.

    Die Operation wird auf den nächsten Vormittag angesetzt, und nachdem Holm und Cornelius abends gegangen sind, ergreift mich Unruhe: Was, wenn ich nach der OP Gemüse bin, zu keiner Äußerung mehr fähig? Es ist immerhin das Hirn. Das ist, soweit ich mich erinnere, der erste Moment der Erschütterung und des Pathos. Ich erreiche Cornelius in der Kneipe auf dem Handy und erkläre: Solange ich noch mit der Wimper zucken kann – fragt mich – wenn ich noch Ja und Nein signalisieren kann – fragt mich und dann fragt mich wieder – und dann wie der Indianer in Einer flog übers Kuckucksnest. Das kriegt ihr hin, oder? Holm, der neben Cornelius sitzt, wirft das Wort Patientenverfügung ein, und am nächsten Tag habe ich das Blatt in der Hand, sehr viel sachlicher, runtergekühlter jetzt am Morgen, genau richtig formuliert.

    So, wie ich mir das wünsche, wünschen es sich offenbar viele oder alle, da ist wieder Verlaß auf die Menschheit. Ich schreib noch drunter, daß ich Organspender bin, aber das hätte ich mir auch sparen können, wie sich bald rausstellt.

    Morgens am 19. Februar ist die OP. Beruhigungsmittel brauche ich nicht. Ich bin vollkommen ruhig. Der Anblick der Apparate beruhigt mich. Mein Vertrauen in die Wissenschaft war immer grenzenlos. Sie können nicht alles. Aber sie versuchen es. Auf dem Weg zur OP taucht Julia auf, das blühende Leben, schwanger und schön, und nimmt meine Hand.

    Abends das Erwachen auf der Intensivstation: Freunde, hieß es, warteten draußen, aber da erinnere ich mich an wenig. Ich erinnere mich, daß ich allein auf dem Rücken im Zimmer liege, und ein junger Arzt kommt durch, der bei der OP assistiert hat. Er berichtet, daß alles wie geplant verlaufen sei, verschwindet sofort wieder, und ich denke, wenn die vorläufige Histologie was

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