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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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daß es ein Ödem ist. Aber irgendwas ist wohl.

Neunzehn : 

    23.8. 2011 12:23

    Bücher, in die ich mir Notizen gemacht hab, in der Badewanne eingeweicht und zerrissen. Nietzsche, Schopenhauer, Adorno. 31 Jahre Briefe, 28 Jahre Tagebücher. An zwei Stellen reingeguckt: ein Unbekannter.

    Erster Eintrag: “20. Mai 1983, Freitag. Letzter Schultag vor Pfingsten. Wunderschönes Wetter. Meine einzige Produktivität in der Schule war in Englisch (s.o.).” [Verweis auf Landschaftsgekritzel.]

    Testament gemacht.

    23.8. 2011 13:38

    Anruf C.: Ich laß dich nicht allein.

    23.8. 2011 14:51

    In der Mensa kann ich der Kassiererin nicht in die Augen blicken. Später das Licht durch eine Tür gesehen, von vorbeifahrenden Autos zerhackt. Wieder höre ich Stimmen in meiner Straße, wieder brauche ich lange, um festzustellen, daß ich allein auf der Straße bin. Der nächste Passant hundert Meter weit weg. Diesmal alles auf Englisch. Keine richtigen Sätze, kann mir nichts merken, verstehe die Struktur nicht. Hall ferner Lieder. Setze mich mit dem Rücken gegen ein Haus und warte, bis es vorbei ist.

    Die Welt löst sich auf.

    23.8. 2011 18:37

    Dr. Vier schickt mich telefonisch in die Charité. Kleider, Rechner, Zahnbürste gepackt, fröhlich auf den Weg gemacht. Die Straße, die Ampel, ein asiatisches Mädchen, schöner als alles, was ich in den letzten zehn Jahren gesehen habe. In der Notaufnahme geweint. C. erscheint. Eine Breitseite Benzos und weiter mit Keppra. Interessanter Neurologe: “Wenn ich ein Glioblastom hätte, würd ich nach Hause gehen.” Wird gemacht, auf Wiedersehen.

    Die hölzerne Sitzbank, wo ich ein Pinguin war.

    24.8. 2011 12:40

    Inhalt der Badewanne nach unten geschafft. 5 mg Frisium abends und morgens bisher keine weitere Wirkung als angstfreies Herumrasen mit dem Fahrrad auf der Torstraße. Nochmal zur Notaufnahme, Unterlagen vergessen. Versuch, einen früheren Termin beim MRT zu kriegen, gescheitert. Versuch, irgendwo einen Termin beim Neurologen zu kriegen, gescheitert. Frisium reicht noch bis heute abend.

    Also zum Hausarzt, dort seelisch auseinandergebrochen. Weder ihm noch sonstwem in die Augen sehen können. Besonders die Sprechstundenhilfe mit ihrer Freundlichkeit, die kenn ich schon, Musterbeispiel praktischer Herzlichkeit, diskrete Empathie, kein überflüssiger Ton, da brechen bei mir jetzt alle Dämme. Danke, dankeschön, tut mir leid, danke, danke.

    An der Tür ruft sie mich noch einmal zurück, weil ich den Zettel mit den Terminen vergessen hab. Rückwärts muß ich auf sie zugehen, beide Hände nach hinten gestreckt wie ein Exorzist, greife blind nach dem Papier.

    24.8. 2011 14:59

    Unter Frisiumschutz Gefühl neuer Sicherheit. Furchtlos passiert der Held die blinkenden Autos, und auch die Sonne jetzt: kein Problem.

    25.8. 2011 8:30

    Dr. Fünf schaut das letzte MRT an und winkt ab. Strahlenschaden links, ganz homogen, paßt doch genau, MRT Mitte September reicht völlig, Frisium 5-0-5, Keppra 1000-0-1000. Zweimal hakt er nach, woran ich erkannt hätte, daß die Stimmen in mir waren und nicht außerhalb. Die Entfernung der Leute zu mir und daß sie nicht die Münder bewegten.

    “Und haben sie Mitteilungen gemacht?”

    Wikipedia: Bei 95% der Rechtshänder befindet sich die dominante Hirnhälfte links, bei 2% rechts, bei 3% ist das Sprachzentrum auf beide Hirnhälften aufgeteilt.

    26.8. 2011 15:39

    Dorotheenstädtischer Friedhof. Mein letzter Besuch schätzungsweise bei meinem Einzug vor fünfzehn Jahren. Christlicher Unsinn, vaterländischer Unsinn. Dreißig Grad im Schatten. Schweiß läuft in die Schuhe, wenn man Heiner Müller auch im dritten Anlauf nicht findet. Brecht immer nett anzusehen, aber die Moderne nicht meins, alles, was typographisch über Paul Dessau hinausgeht: lächerlich.

    “Weitermachen!” rät Marcuse; was im ersten Moment ja erstmal okay klingt. Aber dann doch auch eher wieder nicht. Als ob da einer das Konzept nicht verstanden hat.

    Und was wünscht man sich selbst so? Hier ruht für immer? Für immer tot? Haut ab und besauft euch im Prassnik, ich zahl? Was ich vermutlich gut fände: Starb in Erfüllung seiner Pflicht.

    26.8. 2011 15:43

    “Das ist das Grab von Tevfik Esenç. Er war der letzte Mensch, der die Sprache sprechen konnte, die sie Ubychisch nannten.” (Wikipedia)

    26.8. 2011 18:30

    Beim Fußball drei Tore gemacht und endlich das Frisium identifiziert: Mit äußerster Gelassenheit trabe ich über den Platz, effektiver, weil wieder

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