Arbeit und Struktur - Der Blog
Unglück, die neurotische Persönlichkeit, das falsche Weltbild, das falsche Leben. Das richtige Leben, das in den Abgrund führt. Das Böse. Die Zeit.
5.10. 2011 21:59
Doku auf 3sat über André Rieder, psychisch Kranker, der sich mit Hilfe von Exit in der Schweiz das Leben nimmt. Wie zu erwarten, geht es ihm am besten von allen, Freunde und Bekannte leiden. Kein schlechter, aber auch kein guter Film. Das Entscheidende zeigen sie nicht.
In der anschließenden hochvernünftigen Diskussion – hochvernünftig in dem Sinne, daß in der ganzen Runde kein Trottel sitzt, was ich so im Fernsehen, glaube ich, überhaupt noch nicht gesehen habe – fällt das Wort Voyeurismus. Den man hätte vermeiden wollen. Vielleicht der einzige fragwürdige Satz. Denn warum nicht hingucken?
Eine halbe Stunde soll er gekämpft haben mit seinem Pentobarbital (falls es Pentobarbital war, nicht mal das sagen sie). Wobei es kein Kampf gewesen sei, wie die Gegenseite entgegnet, da von Beginn an bewußtlos. Die Frage, ob und inwieweit im Rahmen wissenschaftlicher Studien da schon Hirnstrommessungen etc. gemacht wurden, bleibt ausgespart.
5.10. 2011 22:19
Das Wort Pietät für mich immer eine ähnliche Leerstelle gewesen wie Ehre oder Seele. Im Zusammenhang mit dem Tod sowieso absurd. Auf die Gefühle der Angehörigen muß Rücksicht genommen werden, klar, und sonst? Ist der Vorgang nicht mindestens genauso interessant wie das umgekehrt oft so genannte Wunder des Lebens?
Erinnerung an den Mittelstufen-Geschichtsunterricht, Französische Revolution, die Terrorherrschaft: Das ganz und gar Unfaßbare, Unmenschliche der johlend, essend und strickend dem Schauspiel folgenden Masse.
Heute säße ich in der ersten Reihe, vermute ich, und ich glaube nicht, daß es Unmenschlichkeit wäre, die mich dazu triebe, sondern dasselbe, was mich in der neunten Klasse uneingestandenermaßen auch schon beschäftigte: Die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassende Darstellung der unbegreiflichen Nichtigkeit menschlicher Existenz. Im einen Moment belebte Materie, im nächsten dasselbe, nur ohne Adjektiv.
Und Pietät mein Arsch. Wenn mit Lebenden einmal so pietätvoll umgegangen würde wie mit Toten oder Sterbenden oder wenigstens ein vergleichbares Gewese drum gemacht würde. Das Schlimmste in den letzten Jahren für mich immer: Die zusammengeschrumpelte, achtzig- oder neunzigjährige Frau zwischen Chaussee- und Invalidenstraße, ein kleines Becherchen vor sich auf dem Trottoir, durchaus nicht verwahrlost, keine mitgeführten Plastiktüten, vermutlich nicht mal obdachlos. Entschließt sich zu ihrer Tat, wenn ich das richtig sehe, nur sehr unregelmäßig und im Abstand einiger Wochen, wenn das Hartz IV oder was auch immer verbraucht ist.
Für gewöhnlich gebe ich Bettlern nichts, wenn ich nicht Münzen direkt griffbereit habe, aber wegen dieser Frau mußte ich schon zweihundert Meter zurücklaufen, die zieht mir völlig den Stecker. Vor allem das Gesicht, wo man sieht: unverschuldet, Altersarmut, Hölle.
Bin mit meiner Argumentation noch nicht ganz am Stammtisch angekommen, aber die Unterkante wird schon sichtbar.
6.10. 2011 15:30
Passig und Gärtner in meiner Küche zum Lektorat. Die beiden verbünden sich sofort gegen mich, schon nach kurzer Zeit führen sie mit 8:1 bei den Änderungen, gutes Zeichen, daß ich wie in jeder Schlußkorrektur wieder versucht habe, die alten und falschen von mir selbst längst mehrfach als falsch erkannten Varianten in veränderter Form wieder einzubauen. Raus damit, raus, alles raus.
Drin bleiben auf Wunsch des Autors verschiedene Anachronismen, Unwahrscheinlichkeiten, eine Enallage. Früher hätte mir alles vom fehlenden Komma bis zum Logikfehler schlaflose Nächte beschert, ich hätte mindestens noch einen Fluglotsenstreik eingebaut, um die drei fehlenden Tage, die Michelle braucht, um dem Polen im Flugzeug begegnen zu können, zu erklären. Aber heute: scheiß drauf.
Richtige Fehler, falsche Fehler. Wenn der 23. August 1972 ein Dienstag war: Katastrophe. Wenn an diesem Tag die Sonne schien, obwohl sie nicht schien: egal.
Moleskine, Inflektiv, Schnupperpreise, ja, ja, ja. Alles egal. Mit einigem anderen haben sie mir den Perfektionismus rausoperiert.
Viel größeres Problem: Daß die Handlung keiner kapiert. Drei von fünf Lesern konnten den Amnestiker bisher nicht identifizieren, was etwa ist, als verriete ein Krimi den Mörder nicht. Das ist keine Absicht. Riesige Verschwörungstheorien
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