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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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10:30

    Freundliche Begrüßung durch Dr. Vier wie immer, aber während ich ihm in sein Zimmer folge, kann ich an seiner Körpersprache schon alles erkennen.

    Das Glioblastom wächst, am Rand der alten OP-Narbe. Wahrscheinlich ist das auch die Ursache für die Anfälle. Aber der Tumor ist rechts, ist Sprache nicht links?

    Drei Möglichkeiten: Temodal, neue OP, Strahlen. Mit der Strahlentherapeutin wurde schon gesprochen, es fällt der Satz: “Hier haben wir noch ein bißchen Platz zum Reinstrahlen gefunden.”

    Aber man kann auch nicht unbegrenzt strahlen, dann Hirn tot. Oder Cyberknife, quasi verbrannte Erde. Gefällt mir technisch alles gut. Mittwoch Termin am Virchow-Klinikum, dann Konferenz, dann Entscheidung.

    Im schlimmsten Fall, was passiert? Das nächste Jahr erleben Sie noch.

    Und im besten Fall? Vielleicht noch mal wie nach der ersten OP.

    Vorherrschendes Gefühl: Erleichterung. Endlich Klarheit. Der Feind tritt aus der Deckung, letzte Materialschlacht. Die Statistik gibt sechs Monate ab Rezidiv.

    Telefonat mit C., die meine Mutter anrufen soll. Kann ich nicht.

    Zu Hause an den Rechner: Arbeit. Maximal noch drei Tage, dann bin ich mit allen Korrekturen durch. Dann kommt nichts mehr von Bedeutung.

    16.9. 2011 18:00

    Fußball. Blätter wehen über den Platz. Okayes Dribbling, ein Pfostenschuß, kein Tor. Der Eindruck, mein Sichtfeld sei weiter geschrumpft. Hebe zur Sicherheit den linken Arm, wenn ich in das Nichts dort renne.

    17.9. 2011 8:30

    Traum: Passig steht neben meinem Nürnberger Schreibtisch. Ich führe mein Schwanken vor. In zwei Wochen ist es vorbei, sagt sie.

    17.9. 2011 10:53

    Kleiner Anfall. Versuche mich an This Be The Verse von Larkin. Hier und da ein Wort, mehr nicht. Fuck, mum, dad. 17 Minuten, bis ich wieder halbwegs sprechen kann.

    21.9. 2011 13:30

    Dr. J. im Virchow-Klinikum zeigt mir die Bilder. Ein 1,3 cm großes Glioblastom wächst von der Narbe Richtung Balken in den Bogen hinein. Wozu brauchte man den Balken nochmal? Weil er die Hälften verbindet? Weil man ohne ihn der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselt, ist? Aha.

    Per Blickdiagnose gibt man mir einen Karnofsky von 100. Dr. J. stellt die Bilder der Konferenz vor. Professor Vajkoczy ordnet das nächste FET-PET an, dann mögliche Re-Resektion. Knapp am Balken, müßte noch gehen. Termin in drei Wochen. Am Plötzensee auf den Steinstufen in der Sonne gesessen und nachgedacht.

Zwanzig : 

    22.9. 2011 23:59

    “Heiliger Vater verursacht Ungläubigem epileptischen Anfall.” Schlagzeile, die man in der morgigen BZ vermutlich nicht lesen wird.

    Seit Tagen schon ist jeder Gullideckel auf dem Weg zur Mensa mit Metallstreifen versiegelt. In der Hannoverschen Straße das Haus der Deutschen Bischofskonferenz, ein Gebäude, das mir in all den Jahren nur aufgefallen ist, weil dort für gewöhnlich sehr breithüftige Männer in hochunmodischen Stoffhosen ein- und ausgehen und weiter nichts.

    Jetzt die ganze Straße gesperrt, Polizei winkt mich zur Seite, bei Subway kann man mit Mensacard nicht zahlen, zurückrasen, Geld holen, essen, Mittagsschlaf fällt aus. Dann Versuch, zwischen kreischenden und blinkenden Polizeikonvois zur AOK durchzukommen, denn wenn man am Hirn operiert werden soll und möglicherweise nur noch eine zweistellige Zahl von Tagen zu leben hat, muß unbedingt ein Tag damit verbracht werden, sich ein rosarotes Papier vom Arzt ausstellen zu lassen, das dann auf die AOK-Geschäftsstelle gebracht und abgestempelt werden muß, wo dreißig Leute in einem stickigen Wartesaal warten und durcheinanderreden – Stimmen, Lichter, Piepsen, Baustellengeräusche – nächster Anfall. Draußen auf einer Bank versuche ich zu verstehen, was mir die Stimmen diesmal auf Englisch sagen. Papst töten? Den Nachbarn? Mich? Grammatik zerschossen. Schließlich kommt eine freundliche AOK-Mitarbeiterin mit dem gestempelten Papier zu mir heraus.

    Daß eine Gesellschaft es sich leisten kann, eine Millionenstadt einen Tag lang lahmlegen zu lassen durch den Besuch eines Mannes, der eine dem Glauben an den Osterhasen vergleichbare Ideenkonstruktion als für erwachsene Menschen angemessene Weltanschauung betrachtet, erstaunlich. Und herzlichen Dank. In hundert Jahren kennt dich kein Mensch mehr, römischer Irrer. Mich schon.

    Wie Manie und Größenwahn sich zuverlässig zurückmelden, wenn mir der Arsch auf Grundeis geht. Zwei Seiten Beschimpfungen gelöscht wg. unoriginell.

    23.9. 2011 16:35

    Versuch eines ruhigen Tages.

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