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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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jetzt keine Mißverständnisse, bitte: Ich bekomme gerne Post. Mehr als neun Zehntel meiner Post kommt von Nichtirren. Freundliche Grüße aus Südamerika, Hongkong und Marzahn-Hellersdorf. Ein Familienfoto mit Rollstuhl in der Mitte, eine Einladung aus der Deutschen Botschaft in Kigali (“wenn Sie mal Urlaub in Ruanda machen”), ein Brief aus dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt – freut mich alles wahnsinnig. Hat mich wahnsinnig gefreut. Nur daß mir leider auch hier die Zeit zum Antworten fehlt. Danke nochmal.

    26.10. 2011 19:45

    Melancholia, zehn von zehn Punkten. Und noch einen Zusatzpunkt fürs Happy End: Groß und grün und strahlend. So ist das, genauso. Noch nie so erlebte Übereinstimmung zwischen filmischer und subjektiver Realität. Urteil deshalb möglicherweise getrübt.

    Aber einmal mit Charlotte Gainsbourg auf einer Terrasse sitzen, über kegelförmig geschnittene Bäume aufs Meer schauen und frühstücken. Oder noch besser stehen. Richtig Gainsbourg ist Gainsbourg ja erst, wenn sie steht.

    28.10. 2011 14:03

    Natasha Little singt Purcell.

    29.10. 2011 16:00

    Sonnenschein, Plötzensee, Stendhal. Drei oder vier Mal weht der Hauch mich an, die ersten Male kann ich ihn niederkämpfen, dann, während ich mit Julia im Restaurant sitze, Anfall. Auslöser die Musik im Hintergrund, Reggae, Textschleife.

    Meine Haltung zerbröselt.

    Aura, Aurora, wußte ich gar nicht, daß das zusammenhängt. Die Göttin der Morgenbrise, der Hauch, der Windhauch.

    Schwer zu beschreiben. Hauch ist schon nicht ganz falsch, ein Windhauch im sich zusammenkrampfenden Gehirn.

    Am schlimmsten der Hall auf der Stimme, die sich selbst reproduzierenden Textbausteine, die ich für meine Gedanken zu halten geneigt bin.

    Weht der Wind zu lange, folgen Depersonalisation und Derealisation, dann schwindet alles dahin. Kein Ich, kein Ding, kein Gefühl. Was nicht anstrengend ist. Anstrengend ist das anschließende sich Wiedermaterialisierenmüssen, der graue Geschmack der Baumwipfel am Abend.

    Seit zwei Wochen suche ich nach besseren Worten, vergeblich. Vielleicht, weil im zu beschreibenden Moment kein Beschreiber mit dabei ist.

    Man steht am Eingang zur Hölle, sieht Feuer und Flammen, spürt keine Wärme und kratzt sich am Kopf.

    Sehr korrekte und umfassende Schilderung der Symptome auf Wikipedia.

    29.10. 2011 16:22

    Dabei erstes klares Gefühl von Ich-Verlust in diesem Blog ja schon im Mai 2010, über ein Jahr vor dem ersten Anfall. Damals, wenn ich das richtig erinnere, noch eine Frucht angestrengten Nachdenkens.

    Und noch früher: Beim Exorzismus mit Cornelius, als die Personalpronomen “ich” und “mich” um keinen Preis aufs Papier wollten.

    30.10. 2011 11:40

    Interviewanfrage eines Journalisten, der einen Bericht vom Tod seiner Schwester anfügt. Lese ihn mit großen Unterbrechungen. Zum ersten Mal ein Eindruck davon, was das hier für eine Zumutung für meine Angehörigen und Freunde darstellen muß. Lange darüber nachgedacht, das Blog abzustellen. C. schüttelt den Kopf.

    31.10. 2011 6:50

    Der Windhauch treibt mich schon vor Praxisöffnung zum Neurologen. Als ich nicht mal mehr das Wort Depersonalisation aussprechen kann, schiebt er mir eine Packung Kleenex rüber. Nächster Versuch:

    Frisium 10 1-1-1
    Keppra 1500 1-0-1
    Lamotrigin 25 0-0-1

    Neben einer langen Liste üblicher Nebenwirkungen listet Lamotrigin die originelle Aussicht auf Tod durchs Lyell-Syndrom auf.

    31.10. 11:15

    In der Revisionsfassung hat ein externer Korrigierer an absolut entscheidender Stelle “Sieben” statt “Siebzehn” in den Text eingetragen, Primzahlenzerlegung. Lektor angerufen: Nicht da. Verlag angerufen: Druckmaschinen laufen seit heute morgen. Zusammenbruch.

    Fünf Minuten später Rückruf, ein zweiter Externer habe es noch bemerkt und die Zahl in letzter Sekunde in die Siebzehn zurückverwandelt.

    4.11. 2011 15:45

    Zwei Tage ohne Anfall, ohne Aura. Ob die neue Sicherheit in dieser Welt medikamenteninduziert oder nur eingebildet ist, egal. Neue randomisierte placebokontrollierte Studien scheinen die Wirkung des Lamotrigins bei Depersonalisation nicht zu bestätigen.

    Heute morgen den nächsten Roman begonnen, Arbeitstitel: Mercer 5083. Science Fiction. Material gesichtet und zusammengekloppt, 55.000 Zeichen. Noch mal so viel, und es geht vielleicht als Novelle durch. Passig, der ich das Projekt vor zwei Jahren schon einmal gezeigt hatte, nannte es “reine Scheiße” und nennt es noch heute

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