Arbeit und Struktur - Der Blog
wie meine Erinnerung mit großer Sicherheit meldet; schon schwindet die Sicherheit. Brace yourself.
Links führt die sechsspurige Straße endlos schnurgerade ins Dunkel, rechts ebenso. Ich wähle die von meiner Intuition sofort als nicht richtig eingeschätzte Richtung, und es ist die richtige. Vom See nach Hause dann ein Kinderspiel. Womit der Proband sich kurz nach Mitternacht den Titel Großer Navigator vielleicht doch noch verdient hat. Irgendwie. Herrndorf, der Magellan der Amrumer Straße, der Wedding-Cook, das Human Global Positioning System.
29.5. 2012 09:06
Ach, ist das ein herrlicher Morgen, so kühl, so hell, so diesig und schiffbefahren.
Die mich zuletzt wieder so beunruhigt habende Leukenzephalopathie des letzten Befundes verwandelt sich unter den freundlichen Blicken Dr. Fünfs in einen eher komplett egalen Strahlenschaden, von der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie der ebenfalls immungeschwächten HIV-Leute jedenfalls grundverschieden. Thou shalt not google.
2.6. 2012 12:13
Lektüre: Das Tagebuch der Anne Frank, das aus unklaren Gründen bisher an mir vorbeigegangen war. Die Aufzeichnungen beginnen an ihrem Geburtstag, der auch mein Geburtstag ist, an dem sie das Buch geschenkt bekommt.
Als Kind war mir die Deutsche Geschichte immer unendlich fern. Als ich zum ersten Mal das Wort Lager hörte, bekriegten sich in der Tagesschau gerade Israelis und Palästinenser, eine meiner ersten Fernseherfahrungen, unverständlich, Jom Kippur 1973.
Ich fragte meinen Vater, und mein Vater erklärte es mir, erklärte die Geschichte des kleinen Staates im Nahen Osten, der am Tag seiner Gründung überfallen wurde und warum; und warum er überhaupt gegründet worden war, und dann gleich die ganze Breitseite Zwanzigstes Jahrhundert für den Achtjährigen: Reichskristallnacht, Hakenkreuz, Vergasung, Russen, Amis – Grotesken aus einer Welt, die mit der freundlich-friedlichen bundesrepublikanischen Welt, in der wir lebten und die wir waren, nicht die geringste Ähnlichkeit hatte, vergangenste Vergangenheit.
Jetzt zum ersten Mal die zeitliche Dimension bemerkt: 23 Jahre liegen zwischen dem ersten Tagebucheintrag und meiner Geburt, eine Generation, mehr nicht, ein Wimpernschlag.
5.6. 2012 12:53
Grass’ Gedicht “Auch vor Juden eben / darf man Zeigefinger heben” hat auf Wikipedia mittlerweile einen Eintrag so lang wie der über Goethe und mehr als sechzig Mal so lang wie über Hölderlins Hälfte des Lebens.
7.6. 2012 14:21
Als Reaktion auf das Blog kriege ich immer wieder Briefe von Leuten, die schreiben, dasselbe durchgemacht und von ihren Ärzten die gleiche Behandlung erfahren zu haben, Unterton: kalt, unmenschlich, Horror. Das ist, was mich und meine Ärzte betrifft, ein Mißverständnis.
Meine Ärzte sprechen sachlich mit mir, ebenso sachlich schreibe ich über sie. Emotionen sind meine Sache, streng arbeitsteiliger Prozeß.
9.6. 2012 12:47
Beim Fußball weiß ich oft nicht, in welche Richtung ich spiele, und wenn ich nicht das Leibchen an mir bemerkte, das auch meine Mitspieler tragen, wüßte ich es gar nicht. Seit ich die neue Wohnung habe, fällt alles schwerer. Der Umzug war kraftraubend und ist noch nicht vorbei, zugleich ist alles so schön, daß ich gar nicht mehr sterben will. Die Routine des Mitallemfertigseins und Jederzeitverschwindenkönnens ist dahin. Erwachen mit herrlichem Blick über rosigen Frühhimmel und gleichzeitig starken Kopfschmerzen jetzt unrelativierbar scheiße.
12.6. 2012 07:21
Endlich die erweiterte, verschissen bürokratische, die Möglichkeit des Sterbenwollens zum Ankreuzen weiterhin nicht enthaltende Patientenverfügung komplett ausgefüllt. Ja, nein, ja, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein. Nein. Unterschrift. Ergänzung.
Neben den Bevollmächtigten sollen meine Freunde X., Y. und Z. und alle weiteren von diesen Benannten ebenso für mich sprechen und meinen Willen vertreten dürfen, über den sie von mir ausführlich und genau informiert und instruiert worden sind. Ich möchte sterben, sobald ich ohne Bewußtsein bin und eine Rückkehr in das vorige Leben unmöglich oder nur unwahrscheinlich ist, und zwar so schnell wie möglich. Unter Leben verstehe ich ein schmerzfreies Leben mit der Möglichkeit zur Kommunikation.
Alles weitere, insbesondere Angaben über meinen körperlichen und geistig einwandfreien Zustand zur Zeit der Abfassung dieser Nachschrift entnehmen Sie bitte meinem Blog. Berlin, 12. Juni 2012,
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