Arcanum – Das Geheimnis
Christopher dachte einen Augenblick nach, dann fasste er einen Entschluss.
„Warte Herbert“.
Er eilte hinaus auf den langen Flur, von dem etliche Räume abgingen, aus denen kein Laut drang.
„Ich bin dabei. Lass und zuerst den Text vollständig übersetzen“.
„Schon geschehen“, triumphierte Herbert, „und willkommen an Bord."
„Ich habe das Kapitel Resurrectio zum Teil mit meinem Schullatein übersetzen können. Glaubst Du die Zombiegeschichte über Adeodatus?“, fragte Christopher unsicher.
„Die Helenalegende zeigt doch erstaunliche Parallelen. Vielleicht wurden diejenigen, die die Vita Adeodati niederschrieben von der alten Geschichte inspiriert und wollten die Echtheit des Kreuzes damit beweisen“.
Herbert hatte recht. Christopher schüttelte das Unbehagen ab, das ihn seit Tagen nicht mehr losließ. Sie waren Archäologen, und es wurde Zeit, sich darauf zurück zu besinnen.
„Was steht im Kapitel Reditio ?“, fragte er neugierig.
Aus dem Lateinischen übersetzt bedeutete es Rückkehr. Christopher fiel ein, dass Aurelius Bischof von Riditio gewesen war, einem Ort in Armenien, den man nicht mehr identifizieren konnte. Seltsam.
„Es geht um die Rückkehr des Adeodatus im Jahre 1074“, erklärte Herbert. „Er kam im Auftrag Gregors, der das Arcanum nach Rom holen wollte. Er erhoffte sich mit seiner Macht einen Durchbruch im verzweifelten Investiturstreit gegen Heinrich, der sich auch nach Canossa nicht geschlagen gab. Du weißt, dass der Gegenkönig, Rudolf von Rheinfelden, in der Schlacht von Hohenmölsen im Jahre 1080 seine rechte Hand verlor. Kommt Dir das bekannt vor?“
„War auch er ein Abtrünniger der Hüter des Kreuzes, oder soll ich besser sagen der Fraternitas Rosae ?“
„Exakt. Er war Gast in Hirsau zum Pfingstfest 1077 und hatte ein langes Gespräch mit Abt Wilhelm. Vermutlich wollte auch er die Sache Roms mithilfe des mächtigen Kreuzes entscheiden. In hoc signo vinces . Hatte ja schon bei Konstantin geklappt. Vielleicht war das Scheitern des Adeodatus Glück im Unglück für Gregor. Hätte Adeodatus seinen Auftrag ausgeführt, dann wären die teuflischen Rosenbrüder sicher nicht vor dem Mord an einem Papst zurückgeschreckt.“
Christopher musste das Gesagte erst einmal verdauen.
„Ich muss immer wieder an unseren Felsen denken, der Dich fast erschlagen hätte. Die griechische Inschrift passte so gut zu Wilhelm, dem großen Gelehrten aus Regensburg“.
„Sie war auch von ihm“, erwiderte Herbert, „er ist der Autor des letzten Kapitels.“
Christopher nickte, da ihm jetzt einige Zusammenhänge klar wurden. „Dann war es auch Wilhelm, der Abt von Hirsau, der mit Berthold und dessen Bruder Gebhard, dem Bischof von Konstanz, das Urteil vollstreckte?“
„Richtig. Während die anderen Adeodatus einem langsamen Tod überließen, konnte Wilhelm nicht über seinen Schatten springen. Er war für sein Mitgefühl weithin bekannt und begleitete den Sterbenden. Adeodatus erklärte Wilhelm, dass er Christus verleugnet hätte und dafür seine gerechte Strafe erhielte, was ja irgendwie auch stimmte. Als er starb, setzte Wilhelm den Leichnam heimlich an einem unbekannten Ort bei, sodass wir lediglich das Skelett der Hand fanden. Am Ort seines Todes errichtete er ein einfaches Holzkreuz, das über die Jahrhunderte verrottete, und gravierte den Stein nach Anweisung des Adeodatus. Wilhelm meinte, dass dies ein frommer letzter Wunsch des Sterbenden gewesen sei, der damit letztendlich wieder Gnade suchte vor den Augen seines Schöpfers. In Wirklichkeit wollte Adeodatus die goldene Scheibe, die er dort versteckt hatte, auffindbar machen für einen Mann, der des Griechischen mächtig war. Er erwartete einen weiteren Boten aus Rom, falls er scheiterte, und das war nun eingetreten. Die Bruderschaft ihrerseits schickte jemanden nach Rom, der dem Papst eine fingierte Botschaft des toten Adeodatus überbrachte, die besagte, dass der gesuchte Gegenstand nicht mehr in Hirsau sei. Gregor war den Rest seines Lebens mit dem Investiturstreit vollkommen ausgelastet, sodass er vermutlich sein Vorhaben aufgab, und unser Artefakt bis zu seinem zufälligen Auftauchen dort blieb. Soweit lässt sich die Geschichte aus der Reditio und geheimen Aufzeichnungen des Konstanzer Bischofs rekonstruieren, die Herr Gryphius auf wundersame Weise beschafft hat“.
Herbert dachte einen Augenblick angestrengt nach und ergänzte dann:
„Eine Kleinigkeit verstehe ich aber nicht. Wenn Wilhelm ein Eingeweihter
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