Arcanum – Das Geheimnis
längere Beschreibung des Aufenthaltes am Odilienberg, den Christopher aufmerksam zu lesen begann.
Vierzig Tage nachdem sie Rom verlassen hatten, erreichten sie den Fuß des Berges der Heiligen. Sie verbrachten die Nacht bei strömendem Regen in ihren Zelten, um am folgenden Morgen in dichtem Nebel, der aus dem Rheintal aufstieg, den beschwerlichen Marsch zur ungeweihten Klosterkirche auf dem Gipfel anzutreten.
Wieso war die Kirche ungeweiht? Christopher schloss die Augen, um noch mal angestrengt nachzudenken. Kirche und Kloster bestanden schon seit weit über hundert Jahren. Er erinnerte sich vage, dass Papst Leo auf eine Einladung hin den Odilienberg besucht hatte.
Jetzt fiel es ihm wieder ein. Natürlich. Die Kirche war abgebrannt und Leo kam 1050 auf Wunsch der Äbtissin, um die neue Kirche zu weihen. Sein Besuch in Hirsau war aber im Winter des Jahres 1049.
Da stimmte doch die Chronologie nicht. Die Entfernung von Rom zum Odilienberg schätzte er auf rund elfhundert Kilometer. Wenn der päpstliche Tross fünfundzwanzig Kilometer pro Tag zurücklegte, dann wären sie nach vierundvierzig Tagen vor Ort gewesen. Da war keine Zeit für den Abstecher nach Hirsau, der nach allen Quellen vor dem Besuch des Odilienberges lag. Die einzige Erklärung, die Christopher einfiel, war, dass der Papst den Odilienberg zweimal besucht hatte, und der erste Besuch im Herbst 1049 lag, bevor er weiter nach Hirsau reiste. Aus einem unerfindlichen Grund hatte dieser Besuch im Geheimen stattgefunden. Das Regenwetter und der Nebel passten in die Jahreszeit. Er blätterte einer Eingebung folgend zum Ende des Buches. Die letzten Kapitel waren ein Anhang, der sich vom Rest des Buches sowohl durch die Schrift, als auch die fehlenden Miniaturen und Initialen unterschied. Vielleicht gab es einen offiziellen Reisebericht und einen Teil, der nur für ausgewählte Leser bestimmt war. Sie trugen die Überschrift Resurrectio und Reditio . Von welcher Auferstehung und Rückkehr war da die Rede? Neugierig bemühte er sich so genau zu übersetzen, wie es seine Lateinkenntnisse zuließen.
Wir und Adeodatus betraten die Ruinen der verfallenen Kirche in einer Vollmondnacht.
War das der Pluralis Majestatis ? Dann war der Autor des Kapitels der Papst selbst? Christopher las begierig weiter.
Adeodatus hatte einen Stallknecht bestochen und uns zwei Pferde besorgt. Wir verließen die Burg auf dem kahlen Hügel unerkannt.
Calewa, der kahle Hügel, war der Ort, an dem die Burg der Calwer Grafen stand, dort wo heute der Buntsandsteinbau des Polizeipräsidiums als neue Burg der staatlichen Macht die Stadt beherrschte.
Mit Adeodatus hatten wir einen starken Arm gegen das nächtliche Mordgesindel, doch lauerte eine weitaus größere Gefahr auf uns. Wir erreichten im Schutze der Dunkelheit nach kurzem Ritt entlang dem Fluss den verfluchten Ort. Adeodatus holte die goldene Scheibe aus seinem Umhang. Wir und er schritten nebeneinander durch das verfallene Schiff der Kirche, die einst dem heiligen Aurelius geweiht war. Adeodatus schloss die Augen und verfiel in eine Art Schlaf, trotzdem ging er schwankend weiter. Dort legte er die Scheibe auf den Erdboden und ein grünliches Licht ging von dem Stein aus, der den Kreuzessplitter schützte. Adeodatus grub mit bloßen Händen bis seine Finger blutig waren. Kein Schmerzenslaut kam über seine Lippen, und er erwachte nicht aus dem Schlaf, der ihn ergriffen hatte. Schließlich fand er das Arcanum. Er nahm den Schlüssel vom Berg der Heiligen und öffnete das Tor zur Unterwelt.
Da war es. Adeodatus führte etwas mit sich, das der Papst und er zuvor auf dem Odilienberg abgeholt hatten.
Christopher übersetzte weiter:
Wir wünschten, wir hätten es nie berührt, doch unsere Sinne waren wie betäubt von der ungeheuren Macht, die von ihm ausging. In diesem Augenblick ergriff uns eine Kälte, und unser Herz hörte auf zu schlagen. Alles Leben wich aus uns und kehrte nie wieder in unsere Brust zurück. Adeodatus öffnete seine Augen und aus dem leuchtenden Blau war ein unergründliches Schwarz geworden, das uns ängstigte. Er nahm den Dolch aus seiner Scheide und stieß ihn sich selbst in die Brust, bevor wir seine Absicht erkennen konnten. Wir waren wie benommen, und doch wussten wir genau, was wir zu tun hatten. Wir berührten den leblosen Körper, dessen Seele ihn bereits verlassen hatte, mit dem Arcanum und öffneten mit dem Schlüssel die Türe in sein neues Leben als williges Werkzeug des Lichtträgers. Er öffnete
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