Archer Jeffrey
Mom.«
»Du hast nicht angerufen«, rügte sie ihn.
»Es tut mir Leid, Mom. Ich hab schon, aber …« Er beschloss, ihr gar nicht zu erklären, weshalb er es kein zweites Mal versucht hatte.
»Seit einer Stunde versuche ich dich zu erreichen. Warst du weg?«
»Nur in der Bar gegenüber. Ich gehe manchmal dorthin, wenn Ellen mit den Kindern im Kino ist.«
Er legte das Kuvert neben sich und hätte nichts lieber getan, als das Gespräch zu beenden, doch ihm war natürlich klar, dass er erst die übliche Samstagabend-Routine hinter sich bringen musste.
»Irgendwas Interessantes in der Times, Mom?«, fragte er viel zu schnell.
»Nicht viel«, antwortete sie. »Es sieht aus, als würde Hillary die Nominierung der Demokraten in den Senat gewinnen, aber ich werde trotzdem Giuliani wählen.«
»Er hat’s immer gut gemacht, und daran wird sich auch nichts ändern«, wiederholte Jake den so oft gehörten Kommentar seiner Mutter über den Oberbürgermeister. Er hob den Umschlag auf und drückte ihn, um festzustellen, wie 100.000 Dollar sich anfühlten.
»Sonst noch was, Mom?«, versuchte er, ihre Ausführungen zu beschleunigen.
»Im Feuilleton steht ein Artikel über Witwen, die mit Siebzig ihren Sexgelüsten freien Lauf lassen. Sobald ihre Männer im Grab liegen, lassen sie sich Hormone geben, um ihr Liebesleben auszukosten. Eine soll gesagt haben: ›Ich versuche nicht, das nachzuholen, was ich versäumt habe, ich will mir einen neuen Mann einfangen‹.«
Während er zuhörte, öffnete Jake eine Ecke des Kuverts.
»Ich würde es selbst versuchen«, gestand seine Mutter, »aber ich kann es mir nicht leisten, mein Gesicht liften zu lassen, was offenbar unverzichtbar dafür ist.«
»Mom, ich glaube, Ellen und die Kinder sind vor der Tür. Ich mach jetzt lieber Schluss.«
»Aber ich habe dir noch nicht von dem faszinierenden Artikel erzählt, den ich gelesen habe.«
»Ich höre«, sagte Jake abwesend und öffnete behutsam den Umschlag.
»Es ist eine Geschichte über eine neue Masche, die irgendwelchen Leuten in Manhattan eingefallen ist. Ich frage mich, welche Tricks sie sich als Nächstes ausdenken, um die Leichtgläubigen um ihr Geld zu bringen.«
Das Kuvert war halb offen.
»Ein paar Schwindler haben eine Möglichkeit gefunden, die Telefonleitung anzuzapfen, während jemand gerade eine Nummer wählt …«
Noch ein paar Zentimeter, und Jake konnte den Inhalt des Umschlags auf den Tisch leeren.
»Man meint dann, dass man ein Gespräch mithört.«
Jake nahm den Finger aus dem Umschlag und hörte seiner Mutter plötzlich sehr viel aufmerksamer zu.
»Dann führen sie ihr Opfer mit einem gut ausgedachten Gespräch in Versuchung.«
Schweiß trat Jake auf die Stirn, als er auf den fast geöffneten Umschlag starrte.
»Sie machen einen glauben, dass man nur einen 100-DollarSchein zum anderen Ende der Stadt bringen muss, und man bekommt ein Kuvert mit 100.000 Dollar dafür.«
Jake wurde übel, als er daran dachte, wie bereitwillig er sich von seinen 100 Dollar getrennt hatte und wie er auf diese Betrüger hereingefallen war.
»Sie treiben ihren Schwindel in Tabakläden und Zeitschriftenhandlungen«, fuhr seine Mutter fort.
»Und was ist in dem Umschlag?«
»Also wirklich – die machen das richtig schlau«, antwortete seine Mutter. »Sie stecken eine Broschüre mit Tipps hinein, wie man schnell zu 100.000 Dollar kommt. Und das ist nicht mal illegal, weil der darauf angegebene Preis 100 Dollar beträgt. Sehr gerissen, das muss man denen lassen!«
Ich bin darauf hereingefallen, Mom, wollte Jake sagen; stattdessen schmetterte er den Hörer auf die Gabel und starrte auf den Umschlag.
Es läutete an der Wohnungstür. Ellen und die Kinder mussten aus dem Kino zurück sein, und Ellen hatte offenbar wieder einmal den Schlüssel nicht eingesteckt.
Wieder läutete es.
»Okay, okay, ich komm ja schon!«, rief Jake. Er packte das Kuvert, denn er war entschlossen, keine Beweise seiner Leichtgläubigkeit zu hinterlassen. Als es zum dritten Mal läutete, rannte er damit in die Küche, öffnete den Müllschlucker, dessen Schacht zum Verbrennungsofen führte, und warf den Umschlag hinein.
Die Glocke klingelte hartnäckig weiter, diesmal ohne Unterbrechung. Jemand musste den Finger darauf gedrückt halten.
Jake rannte zur Tür, riss sie auf und sah sich drei kräftigen Männern gegenüber. Das Muskelpaket im schwarzen T-Shirt sprang herein und drückte Jake ein Messer an die Kehle, während die anderen beiden ihn an den Armen packten. Die Tür knallte
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