Archer Jeffrey
Sessel, den er besaß, fallen und zog den Umschlag, den ihm sein Vater hinterlassen hatte, aus der Brusttasche. Das Kuvert gehörte zu jener schweren, teuren Sorte Briefpapier, das Pa immer verwendet hatte und bei Smythson in der Bond Street zu kaufen pflegte – fast zum doppelten Preis, als er im nächstgelegenen Laden der W. H. Smith-Kette gezahlt hätte. »Captain Adam Scott, MC« stand in der sauberen, wie gestochenen Handschrift seines Vaters auf dem Umschlag.
Behutsam öffnete Adam das Kuvert. Ihm zitterte leicht die Hand, als er einen Brief in der unverkennbaren Handschrift des Vaters und ein zweites, kleineres Kuvert herausnahm; es war offensichtlich älteren Datums; das Papier war vergilbt, es war in einer ihm unbekannten Schrift, in verblaßter Tinte von undefinierbarer Farbe, adressiert an »Colonel Gerald Scott«. Adam legte es neben sich auf das kleine Tischchen, entfaltete den Brief seines Vaters und begann zu lesen. Der Brief war undatiert.
Mein lieber Adam!
Im Laufe der Jahre wirst Du viele Erklärungen für meinen plötzlichen Abschied vom Regiment gehört haben. Die meisten waren sicherlich absurd und einige verleumderisch, aber im Interesse aller Beteiligten habe ich es vorgezogen, meine Meinung für mich zu behalten. Doch glaube ich, Dir eine ausführliche Erklärung zu schulden, und dazu soll dieser Brief dienen. Wie Du weißt, war ich vom Februar 1945 bis Oktober 1946 – unmittelbar vor meinem Abschied vom Dienst – in Nürnberg stationiert. Nach vierjährigem, fast ununterbrochenem Fronteinsatz war mir das Kommando über jene britische Abteilung übertragen worden, in deren Aufgabenbereich die Bewachung der hohen Nazis fiel, die auf ihren Kriegsverbrecherprozeß warteten. Die Gesamtverantwortung lag bei den Amerikanern, aber ich lernte die Gefangenen doch recht gut kennen, und nach etwa einem Jahr konnte ich einige von ihnen sogar ertragen – vor allem Heß, Dönitz und Speer –, und ich habe oft darüber nachgedacht, wie die Deutschen wohl uns behandelt hätten, wenn die Sache anders ausgegangen wäre. Solche Überlegungen waren damals verpönt. All jene, die sich noch nie viel Gedanken gemacht hatten, kamen immer gleich mit dem Vorwurf der »Fraternisierung«.
Unter den hohen Nazis, mit denen ich täglich Kontakt hatte, befand sich auch Reichsmarschall Göring, den ich jedoch im Unterschied zu den drei vorhin Erwähnten von Anfang an verabscheute. Ich fand ihn arrogant, hochfahrend, und er schien sich für die Barbarei, die er im Namen des Krieges begangen hatte, nicht im mindesten zu schämen. Er gab mir übrigens auch kein einziges Mal Anlaß, meine Meinung über ihn zu ändern. Manchmal wunderte ich mich, wie ich in seiner Gegenwart die Selbstbeherrschung zu wahren vermochte.
Am Abend vor seiner Hinrichtung bat Göring mich um eine persönliche Unterredung. Es war ein Montag, und ich kann mich an jedes Detail erinnern, als hätte das Gespräch erst gestern stattgefunden. Sein Gesuch wurde mir übermittelt, als ich die Wache von den Russen übernahm – ihr verantwortlicher Offizier war Major Wladimir Koski; Koski übergab mir das Schreiben persönlich. Sobald ich die Wachmannschaft inspiziert und den üblichen Papierkram erledigt hatte, suchte ich den Reichsmarschall zusammen mit dem diensthabenden Korporal in seiner Zelle auf. Göring stand stramm neben seinem kleinen, niedrigen Bett und salutierte, als ich eintrat. Beim Anblick der kargen Zelle mit den graugestrichenen Ziegelwänden schauderte mir jedesmal.
»Sie haben um meinen Besuch gebeten?« fragte ich. Ich konnte es nie über mich bringen, ihn mit Rang und Namen anzureden.
»Ja«, antwortete er. »Nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Colonel. Ich möchte nur meinen letzten Wunsch äußern – den Wunsch eines Mannes, der zum Tode verurteilt worden ist. Könnte der Korporal uns wohl einen Augenblick allein lassen?«
Da ich annahm, daß es sich um eine intime Angelegenheit handelte, bat ich den Korporal, draußen zu warten. Ich muß gestehen, ich hatte nicht die geringste Ahnung, was jemand, der nur noch wenige Stunden zu leben hatte, auf dem Herzen haben konnte. Als die Tür wieder geschlossen war, salutierte Göring noch einmal und überreichte mir den Briefumschlag, der sich jetzt in deinem Besitz befindet. Er sagte nur: »Seien Sie so gut und öffnen Sie ihn erst morgen nach meiner Hinrichtung.« Und er fügte noch hinzu: »Ich kann nur hoffen, daß es Sie für jegliche Vorwürfe entschädigen wird, die Ihnen später
Weitere Kostenlose Bücher