Archer Jeffrey
und ein Jahr jünger als seine Schwester.
Als seine Mutter, Zelta, den kleinen Lubji in den Armen hielt, hatte sie gelächelt. Das Kind war vollkommen, bis hin zum leuchtend roten Muttermal unter dem rechten Schulterblatt
– genau an der gleichen Stelle, an der auch sein Vater eines hatte.
Die winzige Hütte, in der die Familie wohnte, gehörte Lubjis Großonkel, einem Rabbi. Der Rabbi hatte Zelta mehrmals gebeten, Sergei Hoch, den Sohn eines einheimischen Viehhändlers, nicht zum Mann zu nehmen. Das junge Mädchen hatte sich zu sehr geschämt, ihrem Onkel zu gestehen, daß sie bereits ein Kind von Sergei erwartete. Obwohl Zelta die Bitte des Rabbi enttäuscht hatte, überließ dieser dem frisch vermählten Paar die Hütte als Hochzeitsgeschenk.
Als Lubji das Licht der Welt erblickte, waren die vier Zimmer schon übervoll, und als er seine ersten Schritte tat, hatte er bereits einen zweiten Bruder und noch eine Schwester.
Lubjis Vater bekam die Familie kaum zu Gesicht. Jeden Tag verließ er kurz nach Sonnenaufgang ihr Zuhause und kehrte erst bei Einbruch der Dunkelheit zurück.
Lubjis Mutter erklärte, daß er seiner Arbeit nachginge. »Und was tut er?« wollte Lubji wissen.
»Er hütet das Vieh, das dein Großvater ihm hinterlassen
hat.« Lubjis Mutter versuchte gar nicht erst, sich und den Kindern vorzumachen, die paar Kühe mit ihren Kälbern wären eine Herde.
»Und wo arbeitet Vater?« fragte Lubji.
»Auf den Weiden auf der anderen Seite der Stadt.« »Was ist eine Stadt?« wollte Lubji wissen.
Zelta beantwortete weiter seine Fragen, bis das Kind
schließlich in ihren Armen eingeschlafen war.
Der Rabbi sprach zu Lubji nie über seinen Vater, doch bei vielen Gelegenheiten erzählte er dem Jungen, daß seine Mutter als junge Frau von vielen Verehrern umschwärmt worden war und als schönstes und klügstes Mädchen der Stadt galt. »Wenn man diese Vorzüge bedenkt, hätte sie Lehrerin an der hiesigen Schule werden sollen«, erklärte der Rabbi dem Jungen. Jetzt mußte sie sich damit begnügen, ihr umfassendes Wissen an ihre ständig wachsende Familie weiterzugeben.
Doch von allen Kindern war es allein Lubji, der einen ebenso großen Wissensdurst entwickelte wie einst Zelta. Er saß zu Füßen seiner Mutter, verschlang jedes ihrer Worte und die Antworten auf seine zahllosen Fragen. Im Laufe der Jahre zeigte der Rabbi Interesse an den Fortschritten Lubjis – und machte sich Sorgen darüber, welche Seite der Familie größeren Einfluß auf den Charakter des Jungen haben würde.
Dieser Gedanke war dem Rabbi zum erstenmal gekommen, als Lubji ins Krabbelalter kam und die Haustür entdeckte. Von da an galt die Aufmerksamkeit des Kindes nicht bloß seiner an Haus und Herd geketteten Mutter, sondern auch dem Vater und dem Rätsel, wohin er eigentlich ging, wenn er jeden Morgen das Haus verließ.
Sobald Lubji stehen konnte, drückte er die Türklinke herunter, und kaum vermochte er zu laufen, trat er hinaus auf den Gehweg und in die große weite Welt außerhalb des Hauses, in der sein Vater unterwegs war. Einige Wochen war Lubji es zufrieden, die Hand des Vaters zu halten und mit ihm über die kopfsteingepflasterten Straßen des schlafenden Städtchens zu der Wiese zu trippeln, auf der sein Vater das Vieh hütete.
Doch bald schon langweilten ihn die Kühe, die bloß kauend herumstanden und immer nur darauf warteten, gemolken zu werden und dann und wann Kälber zur Welt zu bringen. Lubji wollte herausfinden, was sich in der Stadt abspielte, die gerade erst erwachte, wenn er morgens mit dem Vater durch die geheimnisvollen Straßen ging.
Douski als Stadt zu bezeichnen war eigentlich eine Übertreibung. Der Ort bestand lediglich aus ein paar Reihen steinerner Häuser, einem halben Dutzend Läden, einem Gasthof, einer kleinen Synagoge – zu der Lubjis Mutter jeden Samstag die ganze Familie mitnahm – und einem Rathaus, in dem Lubji noch nie gewesen war, das er jedoch für das aufregendste Gebäude auf der ganzen Welt hielt.
Eines Morgens band sein Vater ohne Erklärung zwei Kühen einen Strick um den Hals und führte sie in die Stadt. Lubji trottete glücklich neben ihm her und bombardierte ihn mit Fragen, was er mit den Tieren vorhatte. Doch anders als die Mutter beantwortete der Vater Lubjis Fragen nur zögernd, falls überhaupt, und die Antworten waren nur selten verständlich.
Lubji gab es schließlich auf, seinen Vater mit Fragen zu löchern, da er immer nur ein mürrisches »Wart’s ab« zu hören
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