Archer Jeffrey
fragen, wieviel es wohl kosten würde, einen Laden in Chelsea zu mieten.
Am ersten Sonntag im Oktober 1917 nahm Charlie seine Schwester Sal mit ins West End – um ihr die Sehenswürdigkeiten zu zeigen, wie er ihr erklärte.
Charlie schlenderte mit ihr von Schaufenster zu Schaufenster, sichtlich begeistert von allem Neuen, das er entdeckte. Herrenanzüge, Hüte und Schuhe, Damenkleider, Parfümflaschen, Unterwäsche, sogar Kuchen und Torten konnte er minutenlang in der Auslage bewundern.
»Schau’n wir, daß wir wieder nach Whitechapel kommen, wo wir hinge’ör’n«, forderte ihn Sal ungeduldig auf. »Denn eins steht fest, ‘ier würd’ ich mich nie da’eimfühl’n.«
»Aber verstehst du denn nicht?« fragte Charlie. »Eines
Tages wird mir ‘ier so ein Laden ge’ören.«
»Red doch keinen Mist«, entgegnete Sal. »Nicht mal Dan
Salmon ‘ätt’ sich ‘ier einen leisten können.«
Charlie machte sich nicht die Mühe, ihr zu widersprechen.
Becky behielt mit ihrer Einschätzung recht, daß Charlie innerhalb eines halben Jahres das Bäckerhandwerk beherrschen würde. Schon nach einem Monat wußte er fast soviel wie die beiden Gesellen über die Backofentemperaturen, die Handhabung, die Hefe und das richtige Verhältnis von Wasser und Mehl beim Brot. Und da die Bäckerei dieselbe Kundschaft hatte wie Charlies Karren, ging der Verkauf bei beiden nur minimal zurück und auch nur im ersten Monat.
Becky hielt ihr Wort. Sie machte die Buchführung nicht nur für die Bäckerei, sondern auch für den Karren, nachdem sie dafür Geschäftsbücher erstanden hatte. Am Ende ihres ersten Vierteljahres als Geschäftspartner konnten die beiden einen Gewinn von vier Pfund und elf Shilling verbuchen, obwohl in der Bäckerei ein Gasofen hatte repariert werden müssen und für Charlie die Anschaffung seines ersten Anzugs – aus zweiter Hand – bewilligt worden war.
Sal arbeitete nach wie vor als Kellnerin in dem Cafe in der Commercial Road, aber Charlie wußte, daß sie lieber heute als morgen einen Mann geheiratet hätte – ganz egal, in welcher Verfassung er war –, nur, wie sie sagte, um endlich mal in einem eigenen Zimmer schlafen zu können.
Grace vergaß nie, jeden Monat zu schreiben, und sie schaffte es sogar, ihren Briefen einen fröhlichen Ton zu geben, obwohl sie ständig vom Tod umgeben war. Sie ist genau wie ihre Mutter, sagte Vater O’Malley dann zu seinen Schäfchen. Kitty kam und ging immer noch, wie es ihr beliebte, lieh sich Geld sowohl von ihrer Schwester wie von Charlie und hielt es in keinem Job länger als ein paar Tage aus. Genau wie ihr Vater, sagte der Pfarrer hinter ihrem Rücken.
»Steht dir gut, dein neuer Anzug«, lobte Mrs. Smelley, als ihr Charlie an diesem Montag die wöchentliche Lieferung brachte. Er errötete, griff sich an den Mützenschirm und tat, als hätte er das Kompliment nicht gehört. Dann eilte er zur Bäckerei zurück. Das zweite Vierteljahr versprach einen noch beachtlicheren Gewinn aus beiden Unternehmen einzubringen, und so teilte Charlie Becky mit, daß er ein Auge auf die Metzgerei geworfen habe, nachdem dort der einzige Sohn des Besitzers in Frankreich gefallen war. Aber Becky warnte ihn davor, sich auf ein weiteres Geschäft einzulassen, bevor sie nicht herausgefunden hatte, wie hoch die Gewinnspannen waren, und auch dann wäre ein solches Unterfangen nur sinnvoll, wenn die doch schon ziemlich alten Gesellen ihrem Handwerk auch selbständig nachgehen konnten.
»Denn eines steht fest, Charlie Trumper«, sagte sie, als sie sich in das kleine Hinterzimmer der Bäckerei setzten, um die Monatsabrechnungen der beiden Geschäfte durchzugehen, »von der Metzgerei verstehst du nichts. Weißt du«, fuhr sie fort, »›Charlie Trumper, der ehrliche Händler, gegründet 1823‹ gefällt mir immer noch. ›Charlie Trumper, der leichtsinnige Bankrotteur, geschlossen 1917‹ würde mir jedoch gar nicht gefallen.«
Auch Becky machte eine lobende Bemerkung über den neuen Anzug, aber erst nachdem sie mit den langen Zahlenreihen fertig waren. Charlie wollte das Kompliment gerade zurückgeben und sagen, daß sie offenbar ein bißchen abgenommen hatte, als Becky sich ein Törtchen mit Marmeladefüllung in den Mund stopfte.
Mit klebrigem Finger fuhr sie die Monatsbilanz hinunter, dann verglich sie die Zahlen mit dem handgeschriebenen Bankauszug. Gewinn: acht Pfund und vierzehn Shilling, schrieb sie auf die unterste Zeile.
»Bei diesem Tempo werden wir Millionäre sein, wenn ich
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