Archer Jeffrey
war das Regiment meines Vaters.«
»Gut, dann Royal Fusiliers.« Der Sergeant hakte wieder etwas auf dem Formular ab.
»Wann bekomme ich meine Uniform?«
»Erst in Edinburgh, Junge. Seien Sie morgen früh Punkt acht am King’s Cross. Der nächste.«
Charlie kehrte in die Whitechapel Road 112 zurück und verbrachte dort eine weitere schlaflose Nacht. Seine Gedanken sprangen von Sal zu Grace und dann weiter zu Kitty, und er fragte sich, wie seine zwei Schwestern hier wohl ohne ihn zurechtkommen würden. Er dachte auch an Rebecca Salmon und ihre geschäftliche Abmachung, aber schließlich kehrten seine Gedanken wieder zu dem Grab seines Vaters auf einem Schlachtfeld in fremdem Land zurück und an die Vergeltung, die jeder deutsche Soldat zu spüren bekommen würde, der es wagen sollte, seinen Weg zu kreuzen. Diesen Gedanken hing er immer noch nach, als es allmählich hell wurde.
Charlie zog seinen neuen Anzug an, der Mrs. Smelley so gefallen hatte, sein bestes Hemd, die Krawatte seines Vaters, eine Mütze und sein einziges Paar Lederschuhe. Ich zieh’ ja in den Krieg und geh’ nicht zu einer Hochzeit, sagte er sich, während er sich kritisch in dem gesprungenen Spiegel über dem Waschbecken musterte. Er hatte bereits einen Brief an Becky geschrieben – Vater O’Malley hatte ihm ein bißchen dabei geholfen – und sie angewiesen, die Bäckerei und die Karren nach Möglichkeit zu verkaufen und ihm seinen Anteil aufzuheben, bis er nach Whitechapel zurückkehrte. Im Moment allerdings redete niemand mehr von einem Kriegsende vor Weihnachten.
»Und wenn du nicht zurückkommst?« hatte Vater O’Malley ihn mit gesenktem Kopf gefragt. »Was soll dann mit deinem Anteil geschehen?«
»Dann soll alles, was übrig ist, zu gleichen Teilen zwischen meinen drei Schwestern aufgeteilt werden«, war Charlies Antwort.
Vater O’Malley hatte alles nach Anweisung seines ehemaligen Schülers niedergeschrieben, und zum zweitenmal innerhalb von zwei Tagen setzte Charlie seine Unterschrift unter ein rechtsgültiges Dokument.
Als Charlie fertig angezogen war, warteten Sal und Kitty an der Tür auf ihn, aber er erlaubte ihnen trotz ihres tränenvollen Flehens nicht, daß sie ihn zum Bahnhof begleiteten. Beide Schwestern küßten ihn – auch das war noch nie vorgekommen
–, und er mußte Kittys Hand fast mit Gewalt von der seinen lösen. Dann nahm er sein in braunes Papier gewickeltes Paket, das seine gesamte Habe enthielt, und ging.
Allein schritt er zum Whitechapel Road Markt und betrat die Bäckerei zum letztenmal. Die beiden Gesellen schworen ihm, daß sich nichts ändern würde, bis er zurückkehrte. Als er den Laden verließ, sah er, daß ein Karrenjunge, der etwa ein Jahr jünger als er war, bereits an seinem Standplatz Kastanien verkaufte. Er ging langsam über den Markt in Richtung King’s Cross, ohne noch einmal zurückzublicken.
Er kam eine halbe Stunde zu früh am Bahnhof an und meldete sich sofort bei dem Sergeanten, der ihn einen Tag zuvor gemustert hatte. »Gut, Trumper, ‘olen Sie sich ‘nen Becher Kaffee, und warten Sie auf Bahnsteig 3.« Charlie konnte sich nicht erinnern, wann ihm jemand zum letztenmal einen Befehl erteilt hatte, geschweige denn, wann er einen ausgeführt hatte. Ganz bestimmt seit Großvaters Tod nicht.
Auf Bahnsteig 3 drängten sich bereits Männer in Uniform, aber auch in Zivil. Manche unterhielten sich lautstark, andere standen schweigend und allein herum; jeder versuchte, seine Unsicherheit auf eigene Art in den Griff zu bekommen.
Um elf Uhr, drei Stunden nachdem man sie hierherbeordert hatte, erhielten sie endlich den Befehl, in einen Zug zu steigen. Charlie setzte sich in die Ecke eines unbeleuchteten Wagens und starrte durch das schmutzige Fenster auf die vorüberziehende Gegend, in die er noch nie zuvor gekommen war. Auf dem Gang im Zug spielte jemand die gängigen Schlager auf der Mundharmonika, wenn auch nicht immer ganz richtig. Während sie durch die Bahnhöfe von Städten fuhren, die er zum Teil noch nicht einmal vom Namen her kannte – Peterborough, Grantham, Newark, York –, winkten Menschen auf den Bahnsteigen ihren Helden jubelnd zu. In Durham blieb die Lokomotive stehen, um Wasser und Kohle aufzunehmen. Der Rekrutierungssergeant rief, daß alle aussteigen, sich die Füße vertreten und sich einen Becher Kaffee geben lassen sollten, und wenn sie Glück hätten, bekämen sie vielleicht sogar was zu essen.
Charlie spazierte auf dem Bahnsteig hin und her und kaute ein klebrig süßes
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