Archer Jeffrey
kommen?«
»Warum fragen Sie?«
»Wieviel?« wiederholte Mr. Salmon.
»Fünf Pfund«, murmelte Charlie mit gesenktem Kopf.
Am Freitag abend drückte Mr. Salmon Charlie fünf Sovereigns in die Hand und schenkte ihm ein paar Matzen. »Zahl’s zurück, wann es dir möglich ist, Jungchen, und sag es ja nie meiner Frau, sonst kriegen wir beide was zu hören.«
Charlie zahlte seinen Kredit in Raten von fünf Shilling die Woche zurück, und zwanzig Wochen später war er wieder schuldenfrei. Der Tag, an dem er Mr. Salmon die letzte Rate aushändigte, sollte ihm in Erinnerung bleiben, denn an diesem Tag erfolgte der erste große Luftangriff auf London, und er verbrachte den größten Teil der Nacht unter dem Bett seines Vaters, wo sich Sal und Kitty in Todesangst an ihn klammerten.
Am nächsten Tag las Charlie im Daily Chronicle einen Bericht über die Bombardierung und erfuhr, daß es zwanzig Tote und zweiundachtzig Verletzte gegeben hatte.
Seinen morgendlichen Apfel kauend, stellte Charlie erst Mrs. Smelleys wöchentliche Lieferung zu, ehe er sich an seinen Standplatz in der Whitechapel Road begab. Montags war immer besonders viel los, weil jeder sich nach dem Wochenende wieder frisch eindecken wollte, und bis er zum Nachmittagstee heimkam, war er vollkommen erschöpft. Er stürzte sich gerade hungrig auf sein Drittel des Hackbratens, als jemand an die Wohnungstür klopfte.
»Wer kann das sein?« wunderte sich Kitty, während Sal Charlie eine zweite Kartoffel auf den Teller legte.
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden«, entgegnete Charlie kauend und dachte gar nicht daran aufzustehen.
Widerstrebend verließ Kitty den Tisch und kehrte einen Augenblick später mit hochnäsiger Miene zurück, »‘s ist Becky Salmon. Sagt, sie ›möchte dich mal sprechen‹.«
»Dann führ Miss Salmon ins Wohnzimmer«, wies Charlie sie an.
Kitty schlurfte wieder davon, und Charlie nahm den Rest des Hackbratens in die Finger und ging in das einzige Zimmer, das – von der Küche abgesehen – nicht zum Schlafen benutzt wurde. Er ließ sich in den alten Ledersessel fallen und kaute weiter, während er wartete. Sekunden später marschierte Schickidickie herein und baute sich vor ihm auf, sagte jedoch keinen Ton. Charlie erschrak regelrecht, als er sah, wie sie zugenommen hatte. Obwohl sie wenigstens sechs Zentimeter kleiner war als er, wog sie bestimmt fünf Kilo mehr; ein echtes Schwergewicht, dachte er unwillkürlich. Offensichtlich hatte sie nicht aufgehört, sich mit den Windbeuteln aus Salmons Bäckerei vollzustopfen. Charlie starrte auf die strahlendweiße Bluse, die in einem dunkelblauen Plisseerock steckte, und den gutgeschnittenen blauen Blazer mit einem eingestickten Adler, um den herum Worte in einer Sprache standen, die er nicht kannte. Eine rote Schleife steckte etwas wackelig in ihrem jetzt kurzen schwarzen Haar, und Charlie entging nicht, daß ihre schwarzen Schuhe und weißen Söckchen so makellos sauber waren wie eh und je.
Er hätte ihr einen Stuhl angeboten, aber das war nicht möglich, da er die einzige Sitzgelegenheit in der winzigen Kammer für sich selbst beanspruchte. Er sagte Kitty, sie solle sie allein lassen.
»Was kann ich für dich tun?« fragte Charlie.
Rebecca Salmon begann zu zittern, als sie sich um eine feste Stimme bemühte. »Ich muß mit dir sprechen, weil meinen Eltern etwas zugestoßen ist.« Sie sprach jedes Wort klar und deutlich und zu Charlies unangenehmer Überraschung ohne auch nur die Spur eines East-End-Akzents.
»Und was is’ deinen Eltern zugestoßen?« fragte Charlie barsch in der Hoffnung, sie würde nicht merken, daß er seinen Stimmbruch noch nicht ganz hinter sich hatte. Becky brach plötzlich in Tränen aus. Charlie starrte aus dem Fenster, weil er nicht wußte, was er tun sollte.
Becky zitterte am ganzen Leib, während sie schluchzend hervorstieß: »Tata ist gestern bei dem Luftangriff ums Leben gekommen, und Mami hat man ins Krankenhaus gebracht.« Sie fügte keine weitere Erklärung hinzu.
Charlie sprang auf. »Das ‘at mir keiner gesagt!« rief er aus und begann im Zimmer umherzugehen.
»Es weiß bis jetzt auch niemand«, antwortete Becky. »Ich habe es noch nicht einmal den Leuten in der Bäckerei gesagt. Sie glauben dort, mein Vater sei krank und sei deshalb heute nicht gekommen.«
»Willst du, daß ich’s ihnen sag’?« fragte Charlie. »Bist du des’alb zu mir gekommen?«
»Nein.« Becky hob den Kopf und machte eine kurze Pause. »Ich möchte, daß du die
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