Archer Jeffrey
Monats fuhr ich nach London und begab mich in das Anwaltsbüro von Baverstock, Dickens & Cobb zur Testamentsverlesung.
Mr. Baverstock schien enttäuscht zu sein, daß Amy nicht mitgekommen war, aber er sah ein, daß meine Schwester sich noch nicht so weit vom Schock des Todes meines Vaters erholt hatte, daß sie sich zu dieser Reise in der Lage gefühlt hätte. Einige Verwandte, die ich nur bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen sah, saßen hoffnungsvoll herum. Ich wußte genau, was sie zu erwarten hatten.
Mr. Baverstock brauchte über eine Stunde für diese offensichtlich einfache Zeremonie, doch muß ich ihm zugestehen, daß er mit beachtlichem Geschick den Namen Daniel Trumper vermied, als er erklärte, was schließlich mit dem Vermögen geschehen sollte. Meine Gedanken beschäftigten sich mit anderen Dingen, während die Verwandten einzeln erfuhren, daß offenbar jedem tausend Pfund in den Schoß fallen würde, und ich wurde erst abrupt in die Gegenwart zurückgeholt, als die eintönige Stimme von Mr. Baverstock meinen Namen erwähnte.
»An Mrs. Gerald Trentham und Miss Amy Hardcastle geht zeit ihres Lebens zu gleichen Teilen die Rendite aus der Treuhandgesellschaft.« Der Anwalt hielt inne, um die Seite umzudrehen, ehe er die Hände auf die Schreibtischplatte stützte. »Das Haus und den Grundbesitz in Yorkshire, einschließlich des gesamten Inventars, zuzüglich zwanzigtausend Pfund«, fuhr er fort, »vermache ich meiner ältesten Tochter, Miss Amy Hardcastle.«
33
»Guten Morgen, Mr. Sneddles.«
Der alte Bibliophile war so überrascht, daß die Dame seinen
Namen kannte, daß er einen Augenblick nur wie angewurzelt
stehenblieb und sie anstarrte.
Schließlich schlurfte er zu ihr hinüber und begrüßte sie mit
einer tiefen Verbeugung. Sie war immerhin der erste Kunde in
seinem Antiquariat seit über einer Woche – das heißt, wenn er
von Dr. Halcombe, dem pensionierten Schulleiter absah, der
häufig stundenlang in seinen Büchern schmökerte, aber seit
1937 nichts mehr gekauft hatte.
»Guten Morgen, Madam«, sagte er nun. »Suchen Sie ein
bestimmtes Werk?« Er betrachtete die Dame, die ein langes
Spitzenkleid trug und einen breitkrempigen Hut mit Schleier,
der es unmöglich machte, ihr Gesicht zu sehen.
»Nein, Mr. Sneddles«, erklärte Mrs. Trentham, »ich bin
nicht gekommen, um ein Buch zu kaufen, sondern um Sie um Ihre fachmännische Hilfe zu bitten.« Sie blickte den gebeugten Greis an, der Wollweste, Wintermantel und Fausthandschuhe trug, wahrscheinlich, weil er es sich nicht mehr leisten konnte, den Laden zu beheizen. Obwohl sein Rücken stark gekrümmt war und sein Kopf wie der einer Schildkröte aus ihrem Panzer aus seinem Mantel ragte, wirkten seine Augen klar und sein
Verstand scharf und wachsam.
»Meine Hilfe, Madam?«
»Ja. Ich habe eine umfangreiche Bibliothek geerbt, die
katalogisiert und geschätzt werden müßte. Sie wurden mir sehr
empfohlen.«
»Wie freundlich von Ihnen, Madam.«
Mrs. Trentham war erleichtert, daß Mr. Sneddles sich nicht
erkundigte, wer ihn so empfohlen hatte.
»Und dürfte ich fragen, wo sich diese Bibliothek befindet?« »Ein paar Kilometer östlich von Harrogate. Sie werden
feststellen, daß es sich um eine wirklich außergewöhnliche
Sammlung handelt. Mein seliger Vater, Sir Raymond
Hardcastle – vielleicht haben Sie von ihm gehört –, hat sie zeit
seines Lebens mit viel Liebe zusammengetragen.«
»Harrogate?« fragte Sneddles bestürzt, als hätte sie Bangkok
gesagt.
»Ich werde selbstverständlich für alle Auslagen aufkommen,
egal wie lange Sie brauchen werden.«
»Aber dazu müßte ich den Laden schließen«, murmelte er,
mehr zu sich selbst.
»Natürlich würde ich Sie auch für jeglichen Verdienstausfall
entschädigen.«
Mr. Sneddles nahm ein Buch vom Ladentisch und
überprüfte seinen Einband. »Ich fürchte, das geht nicht,
Madam, es ist völlig unmöglich, wissen Sie …«
»Mein Vater sammelte alles von William Blake. Sie werden
sehen, daß er jede Erstausgabe von ihm hat, manche sogar noch
verlagsneu. Sogar ein handgeschriebenes Manuskript …« Amy Hardcastle hatte sich bereits zu Bett begeben, als ihre
Schwester an diesem Abend nach Yorkshire zurückkehrte. »Sie wird jetzt immer so schnell müde«, erklärte die
Haushälterin.
Mrs. Trentham blieb nichts anderes übrig, als allein ein
leichtes Abendessen zu sich zu nehmen, ehe sie sich gegen
zweiundzwanzig Uhr in ihr altes Zimmer zurückzog. Soweit
sie sehen konnte, war alles wie früher: der Blick
Weitere Kostenlose Bücher