Archer Jeffrey
dafür zu unterschreiben?«
Wieder einmal wurde ihm ein braunes Formular vorgelegt. Über dem maschinegeschriebenen Namen Thomas Prescott, Private, stand ein handschriftlicher Absatz mit einem X darunter und der Unterschrift Sergeant-Major Philpotts als Zeugen.
Charlie nahm eines nach dem anderen aus der Schachtel: Tommys verrostete Mundharmonika, sieben Pfund, elf Shilling und sechs Pence Soldnachzahlung, die Pickelhaube eines deutschen Offiziers. Als nächstes holte er ein kleines Lederetui heraus, öffnete es und sah, daß es Tommys Medaille war. Er drehte sie um. Auf der Rückseite standen die Worte: Für Tapferkeit vor dem Feind. Er hob den Orden heraus und hielt ihn in der Hand.
»Muß ein verdammt tapferer Bursche gewesen sein, dieser Prescott«, sagte der Leutnant. »Ein guter Mann und Kamerad.«
»Das war er«, bestätigte Charlie.
»Wohl auch ein frommer Mann?«
»Nein, das wohl nicht.« Charlie mußte lächeln. »Wieso fragen Sie das?«
»Das Bild«, sagte der Leutnant und deutete in die Schachtel. Charlie beugte sich darüber und starrte ungläubig auf ein Madonnenbild. Es maß etwa zwanzig mal zwanzig Zentimeter und hatte einen schwarzen Teakholzrahmen. Charlie nahm das Bild heraus und hielt es vor sich.
Er betrachtete die tiefen Rot- und Blautöne des kleinen Ölgemäldes und hatte das Gefühl, es schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Behutsam legte er es nach ein paar Sekunden in die Schachtel zurück.
Schließlich setzte Charlie seine Mütze wieder auf, klemmte sich die Schachtel unter einen Arm und das Bündel in braunem Packpapier mit seiner restlichen Habe unter den anderen und steckte die Fahrkarte nach London in seine Brusttasche.
Als er an den Baracken der Kaserne entlangmarschiert war, wobei er sich fragte, wann er wohl wieder in normalem Schritt würde gehen können, blieb er am Wachthaus stehen und drehte sich für einen letzten Blick auf den Exerzierplatz um. Neue Rekruten marschierten nach den Befehlen eines neuen Hauptfeldwebels auf und ab, der offenbar ebenso entschlossen war wie einst Philpott, dem Schnee keine Chance zu geben liegenzubleiben.
Charlie drehte dem Exerzierplatz den Rücken und trat seine Reise nach London an. Er war nun neunzehn Jahre, das Alter, in dem er von Rechts wegen erst des Königs Rock hätte anziehen dürfen. Aber seit er es getan hatte, war er um fünf Zentimeter gewachsen, mußte sich rasieren und war nicht mehr ganz unschuldig.
Er hatte seinen Teil getan und hoffte nur eines: daß er in einem Krieg gekämpft hatte, der ein Ende mit allen Kriegen machen würde.
Der Schlafwagen von Edinburgh war voll von Uniformierten, die den Zivilisten Charlie unfreundlich musterten, weil sie ihn für einen hielten, der seinem Vaterland noch nicht gedient hatte oder, schlimmer noch, ein Drückeberger war.
»Sie werden ihn bald einberufen«, sagte ein Unteroffizier auf der anderen Seite des Abteils besonders laut zu einem Kameraden. Charlie lächelte, schwieg jedoch.
Er schlief schlecht und amüsierte sich über den Gedanken, daß er vielleicht in einem feuchten, schlammigen Schützengraben mit Ratten und Ungeziefer besser hätte schlafen können. Als der Zug um sieben Uhr früh im Bahnhof King’s Cross einfuhr, hatte er einen steifen Hals und sein Rücken schmerzte.
Er streckte sich, dann griff er nach seinem großen Bündel und Tommys Hinterlassenschaft.
Im Bahnhof kaufte er sich ein Sandwich und eine Tasse Kaffee und wunderte sich, als die Bedienung dafür drei Pence verlangte. »Zwei Pence bloß für die in Uniform«, sagte sie und bedachte ihn mit einem abfälligen Blick.
Auf den Straßen herrschte mehr Verkehr und Hektik, als er in Erinnerung hatte, trotzdem stieg er zuversichtlich in eine Straßenbahn, auf der CITY stand. Er saß als einziger Fahrgast auf einer Holzbank und fragte sich, was sich zu Hause wohl alles verändert hatte. Ging sein Laden noch gut? Oder hielt er sich bloß gerade über Wasser? Oder war er verkauft? Oder gar bankrott? Und was war mit dem größten Karren der Welt?
Bei Poultry stieg er aus, nachdem er beschlossen hatte, die letzten anderthalb Kilometer zu Fuß zu gehen. Sein Schritt wurde unwillkürlich schneller, als sich das Aussehen der Menschen – und deren Sprechweise – änderte; Stadtgentlemen in langen schwarzen Mänteln und Melonen wichen Geschäftsleuten in dunklen Anzügen und Filzhüten und diese wiederum einfachen Burschen in schlecht sitzender Kleidung und Mützen, bis Charlie endlich im East End ankam.
Als Charlie sich der
Weitere Kostenlose Bücher