Archer Jeffrey
Ecke Whitechapel Road und Brick Lane näherte, blieb er stehen und starrte auf die rege Betriebsamkeit ringsum. Fleisch an Haken, Gebäckstücke auf Tabletts, Tee in Kannen, Obst und Gemüse in Karren – überall gab es viel zu sehen.
Aber was war mit der Bäckerei und dem Standplatz seines Großvaters? Er zog die Mütze in die Stirn und betrat den Markt.
Als er die Ecke der Brick Lane erreicht hatte, war er sich nicht mehr sicher, ob er überhaupt richtig war. Statt der Bäckerei befand sich in dem Eckhaus eine Maßschneiderei, die, wie dort stand, von einem Jacob Cohen geführt wurde. Charlie preßte die Nase ans Fenster, aber er kannte niemanden von denen, die dahinter arbeiteten. Er drehte sich um und starrte auf die Stelle, wo der Karren mit der Aufschrift ›CHARLIE TRUMPER, DER EHRLICHE HÄNDLER‹ fast ein Jahrhundert lang gestanden hatte, doch da drängten sich Leute um ein Holzkohlenfeuer und kauften heiße Maronen für einen Penny die Tüte. Charlie erstand auch eine Tüte, doch niemand schenkte ihm einen zweiten Blick. Vielleicht hatte Becky alles verkauft, wie er es ihr damals in seinem Brief geraten hatte, dachte er, als er den Markt verließ, um in die Whitechapel Road einzubiegen, wo er wenigstens eine seiner Schwestern wiedersehen würde und wo er sich ausruhen und seine Gedanken sammeln konnte.
Als er vor dem Haus mit der Nummer 112 ankam, freute er sich, daß die Tür neu gestrichen war. Die gute Sal! Er machte die Tür auf und ging geradewegs ins Wohnzimmer – und sah sich einem fetten halbrasierten Mann in Weste und Hose gegenüber, der ein Rasiermesser in der Hand hielt.
»Was ‘aben Sie ‘ier verlor’n?« fragte der Dicke und schwenkte drohend das Rasiermesser.
»Ich wohn’ ‘ier«, sagte Charlie.
»Das könnt’ Ihnen so pass’n! Ich ‘ab dieses Loch schon vor sechs Monaten gekauft.«
»Aber …«
»Kein Aber.« Ohne Warnung stieß der Dicke Charlie so heftig hinaus, daß er rückwärts auf die Straße taumelte. Die Tür wurde hinter ihm zugeschlagen, und Charlie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. Er wußte nicht, was er jetzt tun sollte, und wünschte sich schon fast, er wäre nie heimgekommen.
»‘allo Charlie. Du bist es doch, Charlie, oder?« fragte eine Stimme hinter ihm. »Dann stimmt’s also, du bist gar nicht gefallen.« Charlie wirbelte herum und sah Mrs. Shorrocks an ihrer Haustür stehen.
»Gefallen?« fragte Charlie.
»Ja«, erwiderte Mrs. Shorrocks. »Kitty ‘at uns gesagt, daß du an der Westfront gefallen bist und sie deshalb das ‘aus verkauft ‘at. Das ist schon Monate ‘er – ‘at sich seit’er nicht mehr seh’n lass’n. ‘at dir das denn niemand gesagt?«
»Nein«, antwortete Charlie, der froh war, daß ihn noch jemand kannte. Er blickte seine alte Nachbarin an, blinzelte und fragte sich, weshalb sie jetzt so anders aussah.
»Wie wär’s mit was zu essen, Junge? Du schaust ausge’ungert aus.«
»Danke, gern, Mrs. Shorrocks.«
»Ich ‘ab’ mir grad’ Fisch und Fritten von Dunkley ge’olt. Du ‘ast doch bestimmt nicht vergessen, wie gut die sind, ‘ne Dreipenceportion, ein großes Stück Kabeljau und ‘ne Riesentüte Fritten.«
Charlie folgte Mrs. Shorrocks ins Haus Nummer 110 und ließ sich in ihrer winzigen Küche auf einen Holzstuhl fallen.
»Sie wissen wohl nicht, was aus meinem Karren geworden ist und warum’s die Bäckerei nicht mehr gibt?«
»Die junge Miss Rebecca ‘at beides verkauft. Dürft’ schon neun Monat’ ‘er sein. Gar nicht so lang, nachdem du an die Front bist.« Mrs. Shorrocks legte die Tüte mit den Pommes frites und den Fisch auf ein Stück Papier mitten auf den Tisch. »Aber erst nachdem Kitty uns erzählt hat, daß du an der Marne gefallen bist. Und als die Wahr’eit rauskam, war’s schon zu spät.«
»Wär’ vielleicht besser, ich wär’ gefallen«, sagte Charlie, »denn was ‘ab’ ich jetzt noch?«
»So darfst du nicht red’n, Charlie.« Mrs. Shorrocks schenkte Bier in ein Glas und schob es ihm zu. »Ich ‘ab’ ge’ört, daß ‘ne Menge Karren zu ‘aben sind und manche wirklich günstig.«
»Freut mich zu ‘ören«, sagte Charlie. »Aber zuerst muß ich Becky Salmon finden, weil ich ja selber nicht viel Geld ‘ab’.« Er machte eine Pause, um seinen ersten Bissen Fisch zu essen, »‘aben Sie eine Ahnung, wo ich Becky finden kann?«
»‘ab sie ‘ier nicht mehr geseh’n, Charlie. Wollt’ ja immer ‘och ‘inaus, aber ich ‘ab’ mal ge’ört, daß Kitty sie auf der Londoner
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