Archer Jeffrey
es nie einen Weltkrieg gegeben. Es sah aus, als wüßten sie überhaupt nichts von Lebensmittelmarken.
Vor dem Haus mit der Nummer 147 hielt Charlie an und riß erfreut die müden Augen auf – hier gab es Reihen um Reihen frischen Obsts und Gemüses in einer Qualität, wie er sie voll Stolz verkauft hätte. Zwei adrett gekleidete Verkäuferinnen und ein junger Mann in leuchtendgrüner Schürze standen bereit, eine Kundin zu bedienen, die gerade Trauben begutachtete.
Charlie machte einen Schritt zurück, um zu dem Schild über dem Laden hochzublicken. Darauf stand, in blauen Lettern auf goldenem Grund: ›CHARLIE TRUMPER, DER EHRLICHE HÄNDLER. Gegründet 1823.‹
Becky 1918 – 1920
6 »1480-1532«, sagte er.
Ich schaute meine Aufzeichnungen durch, um mich zu vergewissern, daß ich die richtigen Jahreszahlen notiert hatte, denn es war mir schwergefallen, mich zu konzentrieren. Es war die letzte Vorlesung heute, und ich konnte an nichts anderes denken, als zur Chelsea Terrace zurückzukommen.
Der Maler, den wir an diesem Nachmittag durchgenommcn hatten, war Bernardino Luini, und ich hatte bereits beschlossen, meine Diplomarbeit über das Leben dieses nicht genug gewürdigten Freskenmalers aus Mailand zu schreiben. Mailand… Noch ein Grund, dankbar zu sein, daß der Krieg endlich zu Ende war. Jetzt konnte ich Exkursionen nach Rom, Florenz, Venedig und, ja, nach Mailand planen und Luinis Werke an Ort und Stelle studieren. Michelangelo, da Vinci, Bellini, Caravaggio, Bernini, die Kunstschätze der halben Welt in einem Land! Und ich hatte bisher keine Möglichkeit gehabt, über die Mauern von Victoria und Albert hinauszuschauen.
Um halb fünf verkündete die Glocke das Ende der heutigen Vorlesungen. Ich klappte mein Buch zu und sah, wie Professor Tilsey sich aus dem Saal schleppte. Der alte Mann tat mir leid. Man hatte ihn aus seinem wohlverdienten Ruhestand zurückgeholt, weil so viele junge Professoren weggegangen waren, um an der Westfront zu kämpfen. Matthew Makepeace, der Mann, der diese Vorlesungen hätte halten sollen, war gefallen. »Er war einer der vielversprechendsten Gelehrten seiner Generation«, hatte uns Professor Tilsey mehrmals versichert. »Sein Tod ist ein großer Verlust nicht nur für die Fakultät, sondern für die ganze Universität.« Das konnte ich nur bestätigen: Makepeace war als einer von wenigen Engländern eine anerkannte Autorität gewesen, was Luini betraf. Ich hatte erst drei seiner Vorlesungen besuchen können, ehe er sich freiwillig an die Front in Frankreich gemeldet hatte…
Ich war jetzt im zweiten Jahr am Bedford College und hatte das Gefühl, daß die Zeit ganz einfach nicht reichte, alles zu schaffen. Charly mußte endlich zurückkommen und mir den Laden abnehmen. Ich hatte ihm nach Edinburgh geschrieben, doch da war er schon in Belgien; nach Belgien, als er in Frankreich war; und nach Frankreich, als er zurück in Edinburgh war. Die königliche Post schaffte es offenbar einfach nicht, ihn einzuholen, und jetzt wollte ich nicht, daß Charlie herausfand, was ich getan hatte, ehe ich es ihm selbst sagen konnte.
Jacob Cohen hatte versprochen, Charlie, sobald er in der Whitechapel Road ankam, nach Chelsea zu schicken. Ich konnte seine Rückkehr kaum erwarten.
Ich griff nach meinen Büchern und verstaute sie in meiner alten Schultasche. Es war immer noch die, welche mein Vater
– »Tata« – mir schenkte, als ich mein offenes Stipendium für St. Paul’s bekommen hatte. Meine Initialen, die er so stolz auf die Vorderseite hatte prägen lassen, waren am Verblassen, und der Ledergriff war schon fast durchgescheuert, deshalb trug ich die Tasche seit einiger Zeit nur noch unter dem Arm: Tata wäre nie auch nur auf die Idee gekommen, mir eine neue zu kaufen, solange die alte noch einigermaßen zu gebrauchen war.
Wie streng Tata doch in meiner Kindheit zu mir gewesen war! Sogar den Riemen habe ich zweimal zu spüren bekommen: einmal, als ich mir hinter seinem Rücken Rosinenbrötchen aus dem Laden holte – es war ihm egal, wie viele ich nahm, solange ich ihn fragte –, und einmal, als ich mir beim Apfelschälen in den Finger schnitt und »verdammt« sagte. Obwohl ich nicht im jüdischen Glauben erzogen wurde, brachte er mir doch alles bei, was man ihn in seiner Jugend gelehrt hatte, und duldete mein »untragbares Benehmen« – wie er es oft nannte – nicht.
Erst viele Jahre später erfuhr ich von den Opfern, die Tata hatte bringen müssen, als er um die Hand meiner Mutter,
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