Archer Jeffrey
in ihrer Blindheit, ohne zu klagen oder sich zu beschweren.
In Dover wurden sie am Hafen von Menschenmassen erwartet, die ihren Helden zujubelten. Züge standen bereit, sie in alle Landesteile zu bringen, so daß sie den Rest ihres Lebens von den paar Augenblicken der Ehre, ja des Ruhmes zehren konnten. Dies galt jedoch nicht für Charlie. Sein Marschbefehl lautete, sich in Edinburgh zu melden, wo er mithelfen sollte, die nächste Gruppe Rekruten auszubilden, die an der Westfront gebraucht wurden.
Am 11. November 1918 um elf Uhr kam es zum Waffenstillstand. In einem bewachten Eisenbahnwaggon im Wald von Compiegne wurden die Waffenstillstandsbedingungen unterzeichnet. Als Charlie vom Sieg hörte, bildete er gerade grüne Rekruten am Schießstand in Edinburgh aus. Einige von ihnen konnten ihre Enttäuschung nicht verbergen, daß man sie um die Chance betrogen hatte, gegen den Feind zu kämpfen.
Der Krieg war vorüber und das Empire hatte gewonnen – so zumindest stellten die Politiker das Ergebnis des Kampfes zwischen Britannien und Deutschland hin.
»Über neun Millionen tapfere Männer sind für ihr Vaterland gefallen, darunter viele, die nicht mehr dazu gekommen sind, erwachsen zu werden«, schrieb Charlie in einem Brief an seine Schwester Sal. »Und was haben beide Seiten durch dieses Blutvergießen gewonnen?«
Sal antwortete umgehend. Sie versicherte ihm, wie dankbar sie war, daß er noch lebte, und schrieb: »Ich habe mich mit einem kanadischen Flieger verlobt. Wir beabsichtigen, schon in wenigen Wochen zu heiraten und nach Toronto zu seinen Eltern zu ziehen. Meinen nächsten Brief wirst Du von der anderen Seite der Welt erhalten. Grace ist noch in Frankreich, wird jedoch im Februar ins Londoner Krankenhaus zurückkommen. Sie ist inzwischen Stationsschwester geworden. Ich nehme an, Du weißt, daß ihr Corporal aus Wales ein paar Tage nach dem Waffenstillstand an Lungenentzündung gestorben ist.
Kitty war eine Zeitlang spurlos verschwunden, ist dann aber plötzlich unerwartet wieder in Whitechapel aufgetaucht, und zwar mit einem Mann in einem Automobil, aber es war weder ihr Mann noch ihr Auto. Jedenfalls schien es ihr gutzugehen.«
Charlie freute sich über die Neuigkeiten, doch den Nachsatz seiner Schwester konnte er nicht verstehen. »Wo wirst Du wohnen, wenn du ins East End zurückkommst?«
Sergeant Charles Trumper wurde am 20. Februar 1919 als einer der ersten aus der Armee entlassen; die fehlende Zehe war wenigstens für etwas gut gewesen. Er legte seine Uniform ordentlich zusammen, gab den Helm darauf, zog seine alten Sachen an und brachte die Ausrüstung zum Quartiermeister zurück.
»Hab’ Sie in dem alten Anzug und der Mütze gar nicht gleich erkannt, Sergeant. Paßt wohl nicht mehr so recht, eh? Sie müssen bei den Füsilieren noch tüchtig gewachsen sein.«
Charlie blickte an sich hinunter und stellte fest, daß die Hosenbeine mehrere Zentimeter über den Schnürstiefeln endeten.
»Ja, ich muß wohl an der Front gewachsen sein«, bestätigte er und dachte über diese Worte nach.
»Ich wett’, Ihre Familie wird sich freuen, wenn Sie heimkommen.«
»Was von ihr übrig ist, ja«, entgegnete Charlie, während er sich zum Gehen wandte. Nun mußte er nur noch zum Zahlmeister, um sich seinen letzten Sold und die Fahrkarte abzuholen.
»Trumper, der Offizier vom Dienst würde Sie gern noch sprechen«, sagte der Hauptfeldwebel, nachdem Charlie seine, wie er dachte, letzte militärische Aufgabe erledigt hatte.
Für ihn würden immer Lieutenant Makepeace und Harvey seine Offiziere vom Dienst sein, dachte Charlie, während er noch einmal über den Exerzierplatz zur Schreibstube stapfte. Und kein Milchgesicht, das nie Bekanntschaft mit dem Feind gemacht hatte, würde je ihren Platz einnehmen.
Und doch wollte Charlie gerade schon dem jungen Leutnant salutieren, als er sich erinnerte, daß er nicht mehr in Uniform war; so nahm er nur die Mütze ab.
»Sie wollten mich sprechen, Sir?«
»Ja, Trumper, in einer persönlichen Angelegenheit.« Der junge Offizier tippte auf eine große Pappschachtel auf seinem Schreibtisch, deren Inhalt Charlie nicht sehen konnte.
»Wissen Sie, Trumper, Ihr Freund, Rekrut Prescott«, fuhr der Leutnant fort, »hat ein Testament gemacht, in dem er Sie zu seinem Alleinerben einsetzte.«
Charlie konnte seine Überraschung nicht verbergen, als der Leutnant ihm die Schachtel über den Tisch zuschob.
»Würden Sie so freundlich sein, den Inhalt durchzusehen und dann eine Quittung
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