Argus #5
begann. Die Flure, in denen es noch vor wenigen Stunden hoch hergegangen war, lagen jetzt verlassen da. Die meisten der Gerichtssäle waren leer und abgeschlossen, die Richter entweder in der Mittagspause oder bis zum nächsten Morgen von der Bank erlöst.
Assistant State Attorney Daria DeBianchi drückte die schweren Türen von 4–10 auf und bahnte sich den Weg in den einzigen Saal im Gebäude, in dem noch etwas los war. Auf einer Seite des Geländers, das die Anwälte vom gemeinen Publikum trennte, verlief eine unsichtbare Linie zwischen Anklägern und Verteidigern wie die Grenze zwischen Jungen und Mädchen auf einer Teenagerparty. Sicherheitsbeamte bewachten die Ausgänge und standen zu beiden Seiten der Geschworenenbank, die ebenfalls voll besetzt war – nur dass dort keine Geschworenen, sondern die Angeklagten saßen, alle in leuchtend orangefarbenen Overalls, mit Handschellen aneinandergekettet und mit Fußschellen an den Knöcheln. In den Bankreihen auf der Anklage-Seite saßen Polizisten und Ermittler. Auf der Verteidiger-Seite saßen Familie und Freunde. Der Richter war noch nicht wieder an seinem Platz, und der Geräuschpegel im Saal erinnerte an einen Schulhof in der Pause. Vor der Bank saß die Gerichtsschreiberin und nahm eine Reihe von Staatsanwälten auf, während sie mit einem gebogenen, schwarz glänzenden Fingernagel in ihrem Ohr nach Gold grub. Daria warf einen Blick auf den Ausdruck der Verhandlungsliste am Podium und seufzte tief. Er war über fünf Zentimeter dick. Sie würde bis Weihnachten hier rumsitzen …
Bei einer Körpergröße von knapp eins fünfzig und einem Gewicht von 43 Kilo, mit welligem rotbraunem Haar, blauen Augen und einer Haut, die so hell war, dass sie Sommersprossen bekam, wenn sie nur in der Nähe einer Heizung stand, musste Daria sich ständig anhören, dass sie erstens nicht wie eine Italienerin aussah und zweitens erst recht nicht wie eine Staatsanwältin. Das mit der Italienerin war einzusehen. Alle in ihrer Familie, einschließlich ihrer nonna , hatten einen dunklen Teint, braune Augen und dichtes schwarzes Fell, das ihren ganzen fülligen Körper bedeckte. Daria wurde öfter «Paddy» als «Spaghetti» genannt. Doch was die Kommentare über ihr nicht-staatsanwaltliches Aussehen betraf, wusste sie nicht genau, ob sie als Kompliment oder als Beileidsbekundung gemeint waren. Wobei sie heute, nach fünf Jahren Berufserfahrung, zumindest davon ausgehen konnte, dass ihr Job sie weder allzu stark hatte altern lassen, noch sie allzu sehr verhärmt hatte. Um zu kompensieren, dass sie keine Amazone war, die einem Angeklagten einhändig die AK47 entreißen konnte, bevor sie ihn den Fluss hinauftrug, hatte sie sich angewöhnt, immer hohe Absätze zu tragen – je höher, desto besser. Und roten Lippenstift – je röter, desto besser. Sie hatte mal in der Vogue gelesen, dass roter Lippenstift autoritär wirkte. Meistens funktionierte das. Viele Angeklagte wussten nicht, ob sie mit ihr flirten oder ihr eine Todesdrohung schicken sollten.
In dem imposanten, holzgetäfelten Gerichtssaal gab es nur noch Stehplätze. Nachmittags war 4–10 ausschließlich für Arthur Hearings reserviert – Haftprüfungstermine für knallharte Angeklagte, denen knallharte Verbrechen wie Entführung, Drogenhandel und Mord vorgeworfen wurden und die keine Chance auf frische Luft hatten, solange die «Beweislage eindeutig und der Tatverdacht dringend» waren. Um eben darüber zu streiten, waren die Beteiligten hier. An einem guten Tag mit einem guten Richter war ein Arthur Hearing für die Staatsanwaltschaft keine große Sache – ein zehn- oder zwanzigminütiger Angelausflug, der genau damit endete, womit er begonnen hatte, nämlich mit einem gemeingefährlichen Angeklagten, der bis zur Hauptverhandlung in Untersuchungshaft zu sitzen hatte, im Bezirksgefängnis gegenüber. Doch dienstags hatte Richter Werner Steyn den Vorsitz, ein ehemaliger Pflichtverteidiger, dessen Herz so weit links schlug, dass er kaum aufrecht stehen konnte. Damit war er der Lieblingsrichter aller Verteidiger, die sich naturgemäß darum bemühten, ihre Arthur Hearings auf Dienstag zu schieben. Und da der Feiertag am Montag die Arbeitswoche verkürzte und Steyn wie immer Verspätung hatte, würde Daria sich wohl erst nach Weihnachten wieder dem Chaos auf ihrem Schreibtisch widmen können, das im State Attorney’s Office auf der anderen Straßenseite auf sie wartete.
Sie fand ihren Fall schließlich auf Seite
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