Argus #5
Schoß auf dem Sofa und wartete darauf, dass er durchs Fenster hereinstieg. Oder sie hatte die Anspannung nicht mehr ausgehalten. Vielleicht hatte sie sich eine Kugel durch den Kopf gejagt.
Vor vielen Jahren, als er noch in Sal’s Pizzeria in Bayside, New York, arbeitete, hatte er sie immer aus der Küche beobachtet, wenn sie mit ihren Freundinnen oder mit ihrem Freund dort war. Flirtbereit, fröhlich, sexy. Und so wunderwunderschön. Die Bücher, die sie dabeihatte, und das Sweatshirt, das sie trug, sagten ihm, dass sie Jura studierte, und er war sich sicher, dass sie ziemlich schlau sein musste. Sie hatte einfach alles. Jeder wollte in ihrer Nähe sein – sogar die Kellnerinnen rissen sich darum, sie zu bedienen. Sie war wie ein Magnet, und auch Bill wurde von ihr angezogen. Und dann, eines Tages, musste er eine Pizza in einer Wohnung an der Rocky Hill Road abliefern, und sie öffnete die Tür. Er war so verzaubert, als sie so dicht vor ihm stand, dass er keinen Ton herausbrachte. Nicht einmal «Danke» konnte er sagen, als sie ihm drei Dollar Trinkgeld gab und ein strahlendes Lächeln schenkte. Er war zum Wagen zurückgegangen und hatte sich mit dem Trinkgeld in der Hand einen runtergeholt.
Oft hatte er sich gefragt, ob sie wohl auf die herkömmliche Weise zusammengekommen wären, wenn er den Mumm aufgebracht hätte, sie anzusprechen. Ob sie mit ihm ausgegangen wäre, wenn er sie zum Abendessen eingeladen hätte. Wären sie zusammengekommen? Wären sie vielleicht immer noch zusammen? Oder sogar verheiratet? Wäre sein Leben vielleicht anders verlaufen?
Aber das hatte er nicht getan. So viel zum Thema Fragen, auf die es keine Antwort gab.
Sie war so schön und reizend und so vollkommen, das machte sie unnahbar. Kein Mann konnte sie jemals ansprechen. Kein Mann hätte den Mumm dazu gehabt. Das hatte ihn richtig wütend gemacht.
Also hatte er sie sich genommen.
Und dann hatte er zugeschaut, wie ihr Leben aus den Fugen geriet und die Angst sie zerfraß. Jetzt war sie nicht mehr schön, auch nicht sexy oder flirtbereit oder lustig oder schlau oder sonst irgendetwas. Sie ging nicht mehr aus, sie wollte nicht mehr Rechtsanwältin werden, ihr Freund ließ sie sitzen. Sie zerfiel. Und das mitanzusehen, stellte Bill belustigt fest, war der eigentliche Spaß an der Sache gewesen. Es hatte fast mehr Spaß gemacht, als sie zu ficken.
Aber dann war sie eines Tages einfach verschwunden. Er hatte bei ihrer Wohnung vorbeigeschaut, und sie war weg. Einfach weg. Und als er sie zwölf Jahre später wiedersah, war sie ganz und gar verändert. Braunes Haar und Brille, unförmige Hosenanzüge und ein bissiges Verhalten. Sie war eine unerbittliche Staatsanwältin geworden, und sie wollte auf Teufel komm raus ihre Rache. Sie hatte den Spieß umgedreht. Aber das war ihr nicht lange gelungen.
Jetzt war er wieder draußen.
Und er war hier.
Er schaute auf die Uhr. Schon nach eins. Er griff nach seiner grinsenden Maske. Da glitt plötzlich lautlos das Garagentor auf. Das Licht blieb aus. Hätte er das Haus nicht beobachtet, er hätte es vielleicht gar nicht bemerkt.
Aber er hatte es bemerkt.
Er sah in seine Tasche, wo der kleine, silberne Empfänger zum Leben erwacht war und jetzt rot blinkte, wie eine tickende Zeitbombe, die die Sekunden und Minuten herunterzählte, bis es zu spät war. Dann sah er aus dem Dunkel zu, wie ihr Wagen ganz, ganz langsam, mit ausgeschalteten Scheinwerfern aus der Einfahrt rollte und an ihm vorbeifuhr, hinein in die graue, sternlose Nacht.
60
C.J. bog auf den Cathedral Oaks Drive ein und hielt auf die State Road 154 zu. Schon auf den Nebenstraßen war nicht viel los, aber die SR 154, auch bekannt als San Marcos Pass, war völlig verlassen. Und stockdunkel. Als zweispurige Schnellstraße zwischen den Santa Ynez Mountains und dem Los Padres National Forest war die SR 154 ein waschechter Gebirgspass. Keine Ampeln und keine Straßenlaternen erhellten die Fahrbahn, und kilometerweit war kein einziges Wohnhaus oder Geschäftsgebäude zu sehen. Die Straße war ein schmaler Streifen Asphalt zwischen dem dichten, grünen Wald und einer gewaltigen Gebirgskette. C. J. war die Strecke schon oft gefahren. Von den Nebenstraßen, die sich durch den Wald schlängelten, gingen zahllose, einsame Wanderwege ab, auf denen sie mit Luna gern spazieren ging. Außerdem war es ein sehr schöner Weg, der durch das Wine Country, den ländlichen Teil von Santa Barbara, bis nach Los Olivos führte, wo Michael Jacksons
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