Aristoteles: Grundwissen Philosophie
dem Boden der individualistischen essenzialistischen Metaphysik der Kategorienschrift steht, erscheint Platons These vom [67] ontologischen Primat der Formen zusammen mit der Abtrennbarkeitsthese tatsächlich als eine überflüssige Vervielfachung der ontologisch primären Dinge in der Welt. Selbst wenn Platons These über die Trennung (
chorismos
) von Formen und geformten Dingen schwach gelesen wird, nämlich nur als These über die Nichtidentität von Formen und geformten Dingen, muss der junge Aristoteles skeptisch bleiben, denn ein wichtiger Teil seiner neuen Metaphysik ist die Behauptung, dass erste und zweite Substanz (Usia) partiell identisch sind. Aus dieser Perspektive können wir der simplifizierenden und rigorosen Platon-Kritik des jungen Aristoteles einen Sinn abgewinnen.
Mit seiner frühen essenzialistischen Metaphysik hat Aristoteles seine Arbeit an einer originellen Version der seriösen reduktiven Metaphysik aufgenommen – an einer Metaphysik, die alles Seiende auf das primär Seiende, die Usia, zurückführen will. Die allgemeine Idee ist, dass das primär Seiende, die Usia, dasjenige Seiende ist, von dessen Existenz die Existenz aller anderen Arten von Seiendem abhängt, während die Existenz der Usia nicht von der Existenz einer anderen Art des Seienden abhängt. Und die frühe essenzialistische Metaphysik beantwortet die entscheidende Frage, was die Usia ist, durch die These, dass die artbestimmten und damit essenziell bestimmten Einzeldinge den Bereich der Usia ausmachen – z. B. Sokrates, der Mensch, oder Susi, das Kaninchen, oder Oskar, der Elefant. Aristoteles nennt die Disziplin, die das Programm einer reduktiven Ontologie ausführen und die Usia bestimmen soll,
Erste Philosophie
.
Die Einteilung der Wissenschaften, wie Aristoteles sie in der
Metaphysik
(Metaph. VI 1) vorschlägt, erfolgt zunächst, wie oben skizziert, auf der Basis ihrer spezifischen Gegenstandsbereiche. Aus dieser Perspektive betrachtet die Erste Philosophie dasjenige Seiende, das zugleich unbeweglich und ontologisch autonom (»abgetrennt«) ist. Dies trifft auf den unbewegten Beweger in paradigmatischer Weise zu. Damit scheint die Erste Philosophie im Wesentlichen mit der [68] rationalen Theologie zusammenzufallen und der krönende Abschluss der Naturphilosophie zu sein. Andererseits kennzeichnet Aristoteles die Erste Philosophie als eine Wissenschaft, die das Seiende
als
Seiendes betrachtet: das Seiende,
insofern
es existiert (Metaph. IV 1–2). Und es fällt auf, dass es für andere betrachtende (»theoretische«) Disziplinen analoge Kennzeichnungen gibt: Die Mathematik betrachtet das Seiende, insofern es unbeweglich und nicht abgetrennt ist; die Naturphilosophie betrachtet das Seiende, insofern es selbstbewegt ist; die Biologie betrachtet Seiendes, insofern es lebt; und die Zeugungstheorie betrachtet Seiendes, insofern es lebt und männlich oder weiblich ist (Metaph. XIII 3; Phys. II 2). In dieser raffinierteren Beschreibung werden die spezifischen Gegenstandsbereiche der Wissenschaften eher als die generellen Aspekte angesehen, unter denen sich Seiendes betrachten lässt. Wenn also die Erste Philosophie das Seiende betrachtet, insofern es existiert, analysiert sie das Seiende unter einem ontologischen Aspekt; und eine derartige Analyse lässt sich schwerlich auf den unbewegten Beweger und damit auf rationale Theologie einschränken. Somit scheint die Erste Philosophie weitaus mehr zu sein als lediglich rationale Theologie.
Können die beiden unterschiedlichen Charakterisierungen der Ersten Philosophie konsistent zusammengedacht werden? Das ist ein altes Interpretationsproblem. Vielleicht kann man sagen, dass die Metaphysik als Betrachtung des Seienden als Seiendem weiterhin darauf zielt zu bestimmen, was die primäre Usia ist, aber dafür sollte sie zunächst klären, was es überhaupt heißen kann, eine primäre Usia zu sein. Diese Klärung erweist sich als weitläufige ontologische Untersuchung, die u. a. zu dem Ergebnis führen könnte, dass in unterschiedlichen Bereichen des Kosmos verschiedene Arten von Dingen die Rolle der primären Usia spielen, dass hingegen im Kosmos als Ganzem der unbewegte Beweger die primäre Usia ist. Dann wäre die Untersuchung des unbewegten Bewegers der vorzüglichste, doch bei weitem nicht der [69] einzige Gegenstand der Ersten Philosophie als Wissenschaft vom Seienden als Seiendem. 22
Aristoteles muss die wesentlichen Probleme seiner frühen essenzialistischen Ontologie im
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