Aristoteles: Grundwissen Philosophie
Laufe der Zeit selbst immer deutlicher gesehen haben – etwa dass nicht klar ist, was es genau heißen soll, dass ebenso wie Mensch Lebewesen Ist, auch Sokrates Mensch Ist: Wenn Sokrates Mensch Ist, so muss Mensch als Struktur mit einem konkreten Einzelding wie Sokrates partiell identisch sein können; und das ist nicht leicht zu verstehen. Ein zweites Problem ergibt sich daraus, dass paradigmatische Fälle von primärer Usia wie einzelne lebende Organismen eine strukturelle Einheit aufweisen. Einer der Aspekte dieser Einheit ist die
vertikale Einheit
von Komposita wie Sokrates, obwohl sie aus Form und Materie bestehen. Ein anderer problematischer metaphysischer Aspekt der primären Usia ist die
horizontale Einheit
in der Zeit, die in die substanzielle Veränderung, also das Entstehen und Vergehen, einer primären Usia, eingebaut zu sein scheint: Gibt es ein einheitliches identifizierbares Element, das vor, während und nach der Existenz einer primären Usia präsent ist? Und die vielleicht größte Schwierigkeit stellt in diesem Kontext der Antagonismus zwischen vertikaler und horizontaler Einheit dar: Je enger die vertikale Einheit ist, desto lockerer scheint die horizontale Einheit sein zu müssen; und je enger die horizontale Einheit ist, desto mehr scheint die vertikale Einheit zu schwinden.
Ein weiteres zentrales Problem besteht darin, dass bereits nach der frühen essenzialistischen Metaphysik die zweite Usia, also die Menge der essenziellen Eigenschaften, konstitutiv für das Einzelding ist. Eine der Pointen des Essenzialismus ist gerade, dass ein Einzelding ohne seine essenziellen Eigenschaften nicht das Ding wäre, das es ist. Dann scheint freilich die Existenz der ersten Usia als Einzelding in gewisser Weise von der Existenz ihrer zweiten Usia abhängig zu sein, und das bedroht ihren Status als erste Usia.
Ein letztes gewichtiges Problem folgt aus der Individualität der [70] ersten Usia. Das primär Seiende soll zugleich der vorzüglichste Gegenstand der Erkenntnis sein. Aber nach der aristotelischen Wissenschaftstheorie ist der vorzüglichste Gegenstand der Erkenntnis das Allgemeine. Wenn die erste Usia das Einzelding ist, kann sie demnach nicht der vorzüglichste Gegenstand der Erkenntnis sein. Im Problemkatalog des dritten Buches der
Metaphysik
bezeichnet Aristoteles dieses Problem als die größte philosophische Schwierigkeit.
Diese Probleme lassen sich mit den theoretischen Mitteln des frühen Essenzialismus nicht lösen. Die reife Erste Philosophie, wie sie vor allem in den Büchern VII–IX der
Metaphysik
entwickelt wird, lässt sich am besten so verstehen, dass sie von diesen ernsten Schwierigkeiten ausgeht und sie auflösen soll. Dabei greift Aristoteles, wie wir sehen werden, auf ein theoretisches Instrument zurück, das er in der
Physik
entwickelt hat – die Form-Materie-Analyse. Die hohe Komplexität der Problematik lässt bereits erwarten, dass auch die Antwort kompliziert ausfallen muss.
Zunächst erinnert Aristoteles daran, dass es hinsichtlich der Usia zwei verschiedene Fragen gibt: (i) Welche Dinge sind Usiai? (ii) Was ist die Usia? Und er bemerkt, dass es die erste Frage ist, die traditionell gestellt und beantwortet wurde, dass aber die zweite Frage grundlegender und daher vor der ersten zu klären ist (Metaph. VII 1). Allerdings ist es überaus bezeichnend und wichtig, dass Aristoteles die zweite Frage sogleich abwandelt: Es handelt sich nun nicht mehr um die Frage, was die (erste) Usia ist, sondern was die erste Usia eines Dinges ist (technisch formuliert, ist der Usia-Begriff nicht mehr einstellig, sondern zweistellig: gefragt wird nach der primären Usia-Relation). Erst nach Klärung dieser Frage wird Aristoteles wieder auf das Problem zurückkommen können, was die primäre Usia (im einstelligen Sinne) ist.
In der Untersuchung der Usia geht Aristoteles davon aus, dass es vier mögliche Antworten auf die zentrale ontologische Frage gibt: Wenn X die Usia von Y ist – was ist dann X ?
(i) X ist TEE von Y (=
ti een einai
, »Was-es-war-zu-sein«: das [71] TEE von Y ist das Definiens von Y); (ii) X ist Allgemeines relativ auf Y; (iii) X ist Gattung von Y; (iv) X ist Zugrundeliegendes (für Y). Möglichkeit (iv) wird in der
Metaphysik
in VII 3 behandelt, (i) in VII 4–12 und (ii) und (iii) in VII 13–16. Dass Aristoteles mit der Diskussion von Möglichkeit (iv) beginnt, hat einen interessanten Grund: Diese Diskussion verschafft ihm die Gelegenheit, sich kritisch mit seiner
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