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Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Titel: Aristoteles: Grundwissen Philosophie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Detel
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Zugrundeliegendem ausgesagt. All das trifft, wie Aristoteles betont, nicht zu, wenn X primäre Usia von Y ist, denn dann ist X identisch mit Y und wird daher nicht von Y als Zugrundeliegendem ausgesagt. Und es kann dann auch nicht weitere Dinge Y i geben, auf die X ebenso wie auf Y als gemeinsame Eigenschaft zutrifft. Sind wir dann aber nicht gezwungen anzunehmen, dass die primäre Usia eines Dinges, also das TEE des Dinges, die
individuelle
Form dieses Dinges ist? Das wäre eine fatale Folgerung, denn dann bliebe das für Aristoteles schwerste philosophische Problem ungelöst oder seine Epistemologie müsste auf den Kopf gestellt werden. Denn entweder wäre das individuelle Einzelne die primäre Usia, jedoch nicht der vorzüglichste Erkenntnisgegenstand, oder die Epistemologie müsste erklären, dass das Einzelne tatsächlich auch der vorzüglichste Erkenntnisgegenstand ist (Metaph. III 4, 1001a–b).
    Aristoteles deutet an, dass er das schwerste Problem für lösbar hält, ohne seine Epistemologie derart dramatisch zu ändern (Metaph. XIII 10, 1087a). Diese Lösung kann an die Einsicht anknüpfen, dass eine Form, die etwa als TEE mit einem bestimmten Ding identisch ist, in Bezug auf andere Dinge sehr wohl Allgemeines sein kann. Wenn vernünftiges Lebewesen das Definiens und somit das TEE und die primäre Usia von Mensch ist, dann ist vernünftiges Lebewesen relativ auf Mensch gewiss nichts Allgemeines, aber im Hinblick auf die konkreten Materieteile (Blut, Knochen etc.) verschiedener Menschen wie Sokrates und Platon ist die Form des [74] vernünftigen Lebewesens sehr wohl allgemein. Es ist offenbar die Form-Materie-Analyse, die Raum macht für diese Lösungsstrategie. Als TEE einer Spezies bleibt die primäre Usia eines Dinges eine Form, die von verschiedenen konkreten Materieteilen allgemein ausgesagt werden und so ein Gegenstand der Erkenntnis im aristotelischen Sinne sein kann.
    Diese Lesart wird durch das Kapitel Metaph. VII 17 unterstützt, in dem Aristoteles darauf hinweist, dass die primäre Usia eines Dinges auch eine Ursache sein muss. Seine Überlegung hat folgende – auf den ersten Blick recht triviale – Form: Wenn wir fragen, warum Sokrates ein Mensch ist, lautet eine mögliche Antwort: weil er ein vernünftiges Lebewesen ist und vernünftiges Lebewesen die primäre Usia von Mensch ist. Ein vernünftiges Lebewesen zu sein macht Sokrates zu einem Menschen – wenn es wahr ist, dass Menschen als vernünftige Lebewesen definiert werden können. Diese Art von Antwort lässt sich, wie Aristoteles betont, auch auf den Fall der Form-Materie-Analyse übertragen: Fragen wir, warum bestimmte konkrete Materieteile einen Menschen konstituieren (so dass der aus Form und Materie zusammengesetzte einzelne Sokrates entsteht), dann ist eine mögliche Antwort: weil das TEE »vernünftiges Lebewesen« diesen konkreten Materieteilen zukommt und vernünftiges Lebewesen die primäre Usia von Mensch ist. Hier scheint Aristoteles davon zu sprechen, dass Formen konkreten Materieteilen »zukommen« oder von ihnen »ausgesagt« werden (man nennt die Aussageform heute meist »metaphysische Prädikation«, um anzudeuten, dass es sich um ein ontologisches und nicht um ein linguistisches Verhältnis handelt).
    Aber damit ist das Problem der vertikalen und horizontalen Einheit der Einzeldinge, eines der entscheidenden metaphysischen Probleme, noch nicht gelöst. Wir müssen uns an diesem Punkt klar machen, in welchem Verhältnis diese Überlegungen der reifen Metaphysik zur frühen Metaphysik stehen. Die frühe Metaphysik ist die Erfindung des Essenzialismus und betrachtet das essenzielle Verhältnis zwischen erster und [75] zweiter Usia als gegeben – und insofern als unanalysierbar. In der reifen Metaphysik geht es dagegen um eine tiefere Analyse der essenziellen Beziehungen, um eine genauere Beschreibung und eine tiefere Begründung der essenziellen Verhältnisse. Und für diese metaphysische Bemühung ist der Grundsatz leitend, dass die primäre Usia auch eine Einheit sein muss – sie darf nicht in verschiedene selbstständige Teile auseinander fallen, andernfalls wäre ihre Existenz von der Existenz ihrer Teile abhängig und sie wäre nicht mehr primäre Usia. Dieses Einheitsproblem stellt sich allerdings auf verschiedenen Ebenen.
    Die Einheitsfrage wird zunächst für die
reine Form
(das reine Definiens, das nicht auf Arten der Materie Bezug nimmt) explizit formuliert (Metaph. VII 12) und beantwortet: Inwiefern bilden die

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