Aristoteles: Grundwissen Philosophie
prädikative Praktik enthält eine individualistische ontologische Theorie über die Welt, deren Kernthese ist, dass die individuellen Dinge die ersten
Usiai
oder Substanzen sind. Und damit widerspricht Aristoteles in einer seiner frühesten Schriften diametral dem platonischen Postulat vom ontologischen Primat der Formen.
[65] Neben der These über die Kategorien als verschiedene Arten von Prädikationen und der These über das individuelle Ding als erste Usia präsentiert Aristoteles in der Kategorienschrift noch eine dritte These, die mit einer ganz besonderen Art von Prädikation zu tun hat. Wenn wir beispielsweise sagen, dass Sokrates betrunken oder blass ist, dann unterstellen wir, dass Sokrates Sokrates bleibt, auch wenn er nicht mehr betrunken oder blass ist. Aber wenn wir sagen, dass Sokrates ein Mensch ist, dann setzen wir voraus, dass Sokrates, wäre er kein Mensch mehr, auch nicht mehr Sokrates wäre. Und wenn z. B. ein Ding x rot ist, kann es sehr wohl einen Teil von x geben, der ebenfalls rot ist, und x selbst kann Teil eines größeren Ganzen sein, das rot ist. Wenn ein Ding x dagegen ein Mensch ist, so gibt es keinen Teil von x, der Mensch ist, und x ist seinerseits niemals Teil eines größeren Ganzen, das wir »Mensch« nennen könnten. Wir können diesen Unterschied schließlich auch in modalen Begriffen beschreiben: Sokrates ist
kontingenterweise
(oder
akzidentellerweise
) blass, aber er ist
notwendigerweise
(oder
essenziell
) Mensch. Sokrates’ Eigenschaft, Mensch zu sein, hängt weitaus intimer mit seiner Existenz zusammen als etwa seine kontingente Eigenschaft, blass zu sein. Individuelle Dinge, also erste Substanzen – das ist die dritte These der Kategorienschrift – können essenzielle und kontingente Eigenschaften haben; und weil die essenziellen Eigenschaften so intim mit der Existenz ihrer individuellen Träger zusammenhängen, nennt Aristoteles sie in der Kategorienschrift zweite Substanzen (Usiai).
Allerdings gibt es hierarchisch gestaffelte essenzielle Eigenschaften oder zweite Substanzen, denn
Lebewesen
ist wie
Mensch
eine essenzielle Eigenschaft von Sokrates, aber
Lebewesen
kommt darüber hinaus auch dem Menschen essenziell zu, während das Umgekehrte nicht zu gelten scheint.
Lebewesen
ist eine allgemeinere essenzielle Eigenschaft von Sokrates als Mensch. Aristoteles nennt die speziellste essenzielle Eigenschaft eines Individuums
Spezies
und die allgemeinste essenzielle Eigenschaft eines Individuums
Genus
.
[66] Eine interessante Konsequenz daraus ist, dass für Aristoteles in Sätzen der Form (a) »Sokrates ist ein Mensch« und (b) »Der Mensch ist ein Lebewesen« dasselbe »ist« vorkommt (nämlich das essenzialistische »ist«), während in (c) »Sokrates ist betrunken« ein anderes »ist« erscheint (das kontingent-prädikative »ist«). Neuere Interpretationen schreiben daher das essenzialistische »ist« mit großem I – also »Ist«. Der Mensch Ist also nach Aristoteles Lebewesen, wie Sokrates Mensch Ist. Nach der Standard-Prädikationstheorie der analytischen Philosophie dagegen ist das »ist« in den Sätzen (a) und (c) identisch (das prädikative »ist«), während das »ist« in Satz (b) davon abweicht (als »ist« der Klasseninklusion). Denn die Prädikationstheorie der analytischen Philosophie vernachlässigt den Unterschied zwischen essenziellen und nicht essenziellen Eigenschaften und Prädikationen. 21
Das sind die Grundzüge der frühen essenzialistischen Metaphysik. Diese Metaphysik erlaubt es, in modalen Ausdrücken wie »Möglichkeit«, »Kontingenz« oder »Notwendigkeit« über die Welt zu reden, also beispielsweise zu sagen, dass Aristoteles’ Entscheidung, in Platons Akademie einzutreten, kontingent und nicht notwendig war. Das Zufällige (das, was so oder anders sein kann) und das Notwendige (das, was nicht anders sein kann) sind wichtige Bestandteile der Welt (vgl. z. B. APo I 6, 75a).
Damit wird verständlich, wie Aristoteles mit seiner frühen essenzialistischen Metaphysik versucht, den Bedenken gegenüber Platons Formenlehre Rechnung zu tragen. Die Vagheit der Rede von der »Teilhabe« der individuellen Dinge an den Formen wird durch die Kategorienlehre beseitigt und durch den Essenzialismus näher erklärt. Und das Kriterium dafür, eine ontologisch relevante Eigenschaft eines Individuums zu sein, ist nunmehr, eine zweite Substanz zu sein. Der ontologische Primat der platonischen Formen muss allerdings aufgegeben werden. Wenn man bereits auf
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