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Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Aristoteles: Grundwissen Philosophie

Titel: Aristoteles: Grundwissen Philosophie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Detel
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bereits gesehen haben, das Eingehen dieser perfekten Freundschaft im wohlverstandenen Eigeninteresse – als integralen Bestandteil eines guten und blühenden Lebens. Andererseits betont er, dass die tugendhaften Menschen ihren tugendhaften Freunden Gutes wünschen und Gutes tun werden um ihrer (der Freunde) selbst willen (NE VIII 4, 1156b). An dieser und nur an dieser Stelle weist Aristoteles innerhalb seiner Ethik auf altruistisches Handeln hin, aber dieser Hinweis scheint im Widerspruch zu dem Stellenwert der perfekten Freundschaft zu stehen, die der Mensch aus seinem rationalen wohlverstandenen Eigeninteresse heraus pflegt.
    Diese systematische Spannung löst sich jedoch auf, weil Aristoteles die perfekte Freundschaft auf raffinierte Weise am Modell der Selbstliebe oder Freundschaft mit sich selbst orientiert – und zwar so, dass die Freundschaft zu sich selbst mit einer Freundschaft zu anderen Menschen zusammenfällt. Der gute Mensch soll sich selbst lieben und Freundschaft mit sich selbst schließen (EE VII 6). Dabei handelt es sich für Aristoteles aber nicht um Eigenliebe im modernen Sinne, also nicht einfach um eine Liebe zu sich selbst als Individuum; vielmehr beruht die Selbstschätzung tugendhafter Menschen allein darauf, dass sie das wahrhaft Schätzenswerte in sich lieben – ihren guten gefestigten Charakter und ihr entsprechendes Handeln aufgrund praktischer Vernunft. Nur insofern wir tugendhaft sind, sollen wir uns selbst schätzen, lieben und Freund sein. Schlechte oder willensschwache Menschen haben dagegen keinen guten Grund, sich selbst zu lieben und Freund ihrer selbst zu sein. Was die tugendhaften Menschen an sich selbst schätzen, das schätzen sie dementsprechend auch an anderen tugendhaften Menschen – nämlich deren guten gefestigten Charakter und deren Handeln aufgrund praktischer Vernunft. Deshalb sollen sie Freundschaften mit anderen tugendhaften Menschen schließen wie mit sich selbst: Die Hochschätzung seiner selbst und der anderen wird [105] auf dieser Ebene identisch, der ebenbürtige Freund ist »ein anderes Selbst« (NE IX 4,1166a; IX 9, 1170b).
    Aber diese Identität von Egoismus und Altruismus hat auch eine dynamische Seite. Die Tugenden sind auch bei entwickelten Menschen keine festen endgültigen Zustände, sondern müssen sich immer wieder in angemessenen Handlungen bewähren und in reflexiver Selbstarbeit stabilisiert werden. Und in diesem ethischen Prozess spielen unsere tugendhaften Freunde eine unentbehrliche Rolle: Nur im kritischen Austausch und im gemeinsamen reflektierten Handeln mit unseren Freunden oder unter dem Blick unserer Freunde können wir uns unserer eigenen Tugend vergewissern und sie immer wieder erarbeiten. Hier liegt der tiefste Grund dafür, dass »perfekte« Freundschaft ein notwendiger Bestandteil unseres Glücks ist.
    Aristoteles thematisiert unsere Beziehungen zu anderen Menschen unter den Stichwörtern Gerechtigkeit und Freundschaft also nicht, wie im neuzeitlichen Denken üblich, unter der Prämisse der prinzipiellen ethischen Gleichwertigkeit individueller Personen ohne Ansehen ihres Charakters und ihrer Leistungen, sondern gerade unter Berücksichtigung und Voraussetzung ihres Charakters und ihrer Leistungen, auch wenn – wie er durchaus sieht – Charakter und Leistungsfähigkeit einzelner Menschen zu einem erheblichen Ausmaß von externen sozialen Bedingungen wie Erziehung und Wohlstand abhängen.

[106]
Politische Theorie
    Die politische Theorie als Theorie des Stadtstaates (
polis
), die Aristoteles vornehmlich in seiner Schrift
Politik
präsentiert, ist ein Meisterwerk der politischen Wissenschaft – reich an Themen und voller Innovationen, von der Differenzierung verschiedener Herrschaftsformen über die politische Anthropologie, die Grundlegung der Ökonomie mitsamt einer Kritik am Zinswesen und einer Rechtfertigung männlicher Überlegenheit sowie natürlicher Sklaverei, die Diskussion verschiedener Verfassungen bis hin zur Theorie einer moderaten Demokratie und der politischen Pathologien. Alle diese Überlegungen haben sich seit mehr als zwei Jahrtausenden als wirkungsmächtig erwiesen, obgleich sie nach herkömmlicher Lesart weit entfernt sind von den Leitideen der neuzeitlichen politischen Philosophie, die das heutige politische Denken zu prägen scheinen.
    »Der Mensch ist frei geboren, und doch überall liegt er in Ketten.« Mit diesem Satz, der um die zivilisierte Welt ging, eröffnet Jean-Jacques Rousseau (1712–1778)

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