Aristoteles: Grundwissen Philosophie
Menschen und ihre Handlungen gerecht oder ungerecht genannt werden. 32 Auch Aristoteles unterscheidet in seiner Lehre von der Gerechtigkeit (in NE V) den »objektiven« vom »subjektiven« Gerechtigkeitsbegriff, behandelt aber den Letzteren als theoretischen Leitbegriff. Die objektive Gerechtigkeit führt er meist unter dem Titel »das Gerechte«
(dikaion)
ein und identifiziert sie mit dem Gesetzlichen
(nomimon)
und Gleichen
(ison)
, also mit dem (geschriebenen oder ungeschriebenen) Gesetz und der Regel, dass sich alle Menschen nur das nehmen sollen, was ihnen nach dem Gesetz zusteht (NE V 2, 1129a).
[100] Wenn Aristoteles von »Gerechtigkeit«
(dikaiosyne)
spricht, hat er den subjektiven Gerechtigkeitsbegriff im Blick, also gerechte Menschen, Einstellungen und Handlungen – kurz, eine Art von Tugend und charakterlicher Einstellung. Hier unterscheidet er noch einmal zwischen allgemeiner (vollständiger) Gerechtigkeit (im Kern: Gesetzestreue) und besonderer (partikularer) Gerechtigkeit (im Kern: Erfüllung berechtigter Ansprüche) (NE V 1, 1129a–1130a). Da die Gesetze gewöhnlich viele verschiedene Dinge betreffen, z.B. militärischen Einsatz oder Ehebruch, umfasst die Tugend der Gesetzestreue gewöhnlich eine Reihe verschiedener spezifischer Tugenden, z. B. Tapferkeit oder Besonnenheit, ist also in der Tat allgemein oder so gut wie vollständig. Aristoteles rückt die allgemeine Gerechtigkeit in die Nähe der objektiven Gerechtigkeit (NE V 15, 1138a). Denn zwar können die Gesetze nur gerechte »Werke« und nicht die entsprechenden Tugenden verlangen, und die Gerechtigkeit erfordert als Tugend nicht nur Übereinstimmung mit dem Gesetz, sondern auch die rationale Zustimmung und das rationale Streben nach gerechten Werken, so dass eine Moralisierung des Rechts vermieden wird; aber die allgemeine Gerechtigkeit ist zweifellos jene Tugend, deren Aktualisierung gerade zu freiwilligem gesetzeskonformem Handeln führt.
Die allgemeine Gerechtigkeit hat ersichtlich eine politische Dimension, und so beschäftigt Aristoteles sich in der Ethik vornehmlich mit der partikularen Gerechtigkeit (NE V 4 ff.). Das Anwendungsfeld dieser Tugend sind äußere Güter wie Ämter und Würden, Einkommen und Geld oder Gesundheit und Sicherheit. Und der entscheidende Gesichtspunkt ist, dass wir eine Mitte einhalten sollen in dem, was wir in diesem Bereich einander schulden – eine arithmetische »objektive« Mitte, im Gegensatz zu der – von Einschätzungen abhängigen – »subjektiven« Mitte, die mit den übrigen Tugenden verbunden ist (NE V 6, 1131a).
Die nähere Diskussion der partikularen Gerechtigkeit ist von einer weiteren begrifflichen Eingrenzung geleitet, die auf [101] eine Einteilung von Rechtsgebieten hinausläuft, die bis heute einflussreich geblieben ist. Aristoteles zergliedert nämlich die partikulare Gerechtigkeit zunächst in die Verteilungsgerechtigkeit (distributive Gerechtigkeit), die auf eine angemessene Verteilung von Ehre, Sicherheit und Geld zielt, und die Vertragsgerechtigkeit (ordnende Gerechtigkeit), die den Geschäftsverkehr ordnet – also z. B. Transaktionen oder Austausch von Gütern, aber auch von Leben und Freiheit (NE V 5, 1130b–1131a). Die Vertragsgerechtigkeit zerfällt ihrerseits noch einmal in eine »freiwillige« Form (das heutige Zivilrecht) und eine »unfreiwillige« Form (das heutige Strafrecht) (NE V 5, 1131a). 33 Im Übrigen führt Aristoteles für das gesamte Rechtsgebiet noch eine weitere wirkungsmächtige Unterscheidung ein: zwischen dem natürlichen Recht (
physei dikaion
) und dem gesetzten Recht (
nomikon
), also der Sache nach zwischen Naturrecht und positivem Recht.
Auf der Grundlage dieser Theorie bestimmt Aristoteles die spezifischen Arten partikularer Gerechtigkeit. So definiert er die distributive Gerechtigkeit als Proportion, also als mittleres mathematisches Maß, zwischen Ungleichen nach Verdienst – im Hinblick auf Ehre, Geld oder Sicherheit (NE V 6, 1131a–b). Sind A und B zwei Personen, C und D zwei Güter aus dem angegebenen Bereich, und ist A : B eine Proportion zwischen A und B in Hinsicht auf ihre Verdienste, dann gilt:
(i) Die Verteilung von C und D auf A und B ist gerecht, falls gilt: A : B = C : D.
(ii) Die Verteilung von C und D auf A und B ist ungerecht, falls gilt: A : B > C : D (A wird ungerecht behandelt, B handelt ungerecht, wenn er die Verteilung akzeptiert) oder A : B < C : D (B wird ungerecht behandelt, A handelt ungerecht, wenn er die Verteilung
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