Aristoteles: Grundwissen Philosophie
akzeptiert).
Nach (i) folgt: A : C = B : D und A + C = B + D, d. h., die Situation nach der Verteilung entspricht dem Verdienstverhältnis zwischen A und B.
Da Güter wie Ehre oder Sicherheit kaum exakt quantifizierbar sind, wie es diese Bestimmung erfordert, benutzt Aristoteles [102] häufig eine offenere komparative Definition: Unter den soeben genannten Voraussetzungen gilt für den Fall verteilender Gerechtigkeit: A > B genau dann, wenn C > D, und A < B genau dann, wenn C < D (NE V 6, 1131b).
Es ist mehr als offensichtlich, dass sich die aristotelische Idee der distributiven Gerechtigkeit an einer vorausgesetzten ethischen Hierarchie zwischen Menschen orientiert, die den Menschen je nach ihrer ethischen Vollkommenheit einen unterschiedlichen Wert beimisst. Da diese ethische Hierarchie ihrerseits nur schwer operationalisierbar ist, kann Aristoteles’ Theorie der distributiven Gerechtigkeit leicht dazu benutzt werden, bestehende soziale Ungleichheiten zu rationalisieren; sie birgt daher kaum emanzipatorisches Potenzial.
Die Vertragsgerechtigkeit (ordnende Gerechtigkeit) dagegen ist eine Mitte zwischen Gewinn und Verlust bei Transaktionen von Gütern und kann sich insofern oft an einem objektiven Wertmaßstab, dem monetären Wert von Gütern, orientieren (NE V 7):
(i) Sind A und B zwei Personen, C und D Güter, die auszutauschen sind, und sei das Wertverhältnis zwischen C und D gegeben durch C = a · D, dann ist der Austausch von C gegen D zwischen A und B gerecht, falls der Geldaustausch der Gleichung C = a · D genügt.
(ii) Ist insbesondere unter den Bedingungen von (i) C = 0 oder D = 0, dann handelt es sich um Diebstahl. C oder D können übrigens auch schlechte Dinge wie Tod oder Gefängnis sein. Ist beispielsweise C gut und D schlecht, gibt es kein a mit C = a · D.
Die subjektive partikulare Gerechtigkeit im bisher erläuterten Sinne scheint nicht von charakteristischen Emotionen begleitet zu sein, und zur Ungerechtigkeit gibt es keine entgegengesetzte Form von Schlechtigkeit, d. h., diese Tugend ist nicht wie die übrigen Tugenden eine Mitte zwischen entgegengesetzten Formen von Schlechtigkeit. Die Lehre von den ethischen Tugenden als subjektive Mitte ist daher offensichtlich nicht auf Gerechtigkeit anwendbar. Tatsächlich ist auch die [103] partikulare Gerechtigkeit nicht eine unter vielen spezifischen Tugenden, vielmehr setzt sie die übrigen Tugenden voraus. Die Gerechten können nicht in irgendeiner charakterlichen Hinsicht schlecht sein. Insofern bewahrt Aristoteles der Gerechtigkeit eine Sonderstellung, die sie bereits bei Platon innehatte.
Wie hoch Aristoteles den ethischen Wert der Freundschaft einschätzt, geht schon daraus hervor, dass er diesem Thema zwei ganze Bücher der
Nikomachischen Ethik
widmet (NE VIII–IX). 34 Er beginnt seine Überlegungen mit dem emphatischen Hinweis, dass die Freundschaft das höchste aller äußeren Güter ist, dass niemand ohne Freunde leben möchte und dass Freunde in vielerlei Hinsicht nützlich und hilfreich sind (NE VIII 1). Allerdings gibt es nach Aristoteles drei Arten von Freundschaften – denn wir schätzen eine Sache, weil sie angenehm oder nützlich oder intrinsisch gut ist. So lieben wir auch unsere Freunde, weil sie uns angenehm oder nützlich oder weil sie intrinsisch gut und vortrefflich, also tugendhaft sind (NE VIII 3, 1156a). Da die Freundschaft allerdings ein reziprokes Verhältnis ist, kann es auch zu mancherlei Mischformen kommen, beispielsweise zu einem Austausch von Lust und Nutzen, wenn ein Freund den anderen um des Lustgewinnes liebt, dieser jenen jedoch um des Nutzens willen. Die gewöhnliche Form des päderastischen Verhältnisses im klassischen Griechenland wurde von Aristoteles als eine solche »niedere« Form von Freundschaft bezeichnet, weil der ältere Liebhaber seinen jungen Geliebten mit materiellen Geschenken zu überhäufen pflegte, um sich ihm sexuell nähern zu dürfen (NE VIII 4, 1157a; EE VII 3, 1238b).
Allgemein beruhen Freundschaften teils auf Gleichheit, teils auf Ungleichheit. Freundschaften zwischen Eltern und Kindern, Männern und Frauen sowie zwischen Herren und Sklaven beruhen selbstredend auf Ungleichheit (NE VIII 8–10). Die ethisch relevante Form der Freundschaft ist hingegen eine Beziehung zwischen Gleichen, d.h. zwischen tugendhaften und charakterlich entwickelten Menschen, genauer gesagt [104] Männern, denn Frauen sind nach Aristoteles nicht zu höchsten Tugenden fähig. Aristoteles empfiehlt, wie wir
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