Aristoteles: Grundwissen Philosophie
griechischen Gesellschaft, fundiert durch umfassende empirische Studien zu verschiedenen Verfassungen der Stadtstaaten seiner Zeit.
Das Fundament der aristotelischen
Politik
bildet die Analyse und Theorie natürlicher Herrschaft (Pol. I 3–7, 12–13). Diese Theorie ist eine spezifische Variante der Theorie der natürlichen Gemeinschaften: Vor allem jene Gemeinschaften, die durch Herrschaftsverhältnisse strukturiert werden, formieren sich unter Tieren und Menschen von Natur aus, weil Herrschaftsverhältnisse gewöhnlich den Herrschenden ebenso [109] Nutzen bringen wie den Beherrschten – und zwar mehr, als wenn sie isoliert außerhalb dieser Verhältnisse lebten. Aristoteles behauptet sogar, dass in vielen Fällen Herrschaftsverhältnisse für das bloße Überleben der Herrschenden und Beherrschten notwendig sind. Zumindest bei Menschen gibt es allerdings unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse (Pol. I 3, 1253b). Zu nennen ist hier etwa die familiäre Herrschaft: Männer herrschen über Frauen, Eltern über ihre Kinder. Die familiären Herrschaftsverhältnisse sind wesentlich durch wohlwollende Erziehungsmaßnahmen geprägt. Fast ebenso elementar ist aber auch die Herrschaft der Herren über die Sklaven: eine Herrschaft von freien Menschen über »beseelten Besitz« oder »beseelte Werkzeuge«, die nicht ein pädagogisches, sondern ein instrumentelles Verhältnis zu den Beherrschten einnimmt. Das instrumentelle Herrschaftsverhältnis schließt eine gute Behandlung der beseelten Werkzeuge keineswegs aus, im Gegenteil, schließlich sollten wir unsere Werkzeuge pfleglich behandeln, wenn wir profitabel mit ihnen arbeiten wollen.
Die Familie und die Gemeinschaft von Herren und Sklaven – das sind die beiden elementaren menschlichen Gemeinschaften, aus denen der Großhaushalt (
oikos
) besteht, zumal wenn der Großhaushalt, wie in den meisten Fällen, eine landwirtschaftliche Farm ist. Mehrere Großhaushalte bilden ein Dorf und, sozial gesehen, einen familiären Clan, in dem komplexere familiäre Herrschaftsverhältnisse erforderlich sind, die jedoch vom Typus her nicht von den familiären Strukturen unterschieden sind. Mehrere Dörfer schließlich formen einen Stadtstaat, eine Polis – und auf dieser Ebene tritt ein neues Herrschaftsverhältnis auf, nämlich die Herrschaft der freien männlichen Bürger über andere freie männliche Bürger, die politisch so organisiert werden muss, dass sie den Status des freien Bürgers bewahrt.
Diese Analyse der Polis und der zugrunde liegenden Herrschaftsverhältnisse beruht auf der Annahme, dass von Natur aus Herrschaftsverhältnisse zwischen Menschen bestehen. [110] Und das versucht Aristoteles in der Tat auch nachzuweisen. Das Bedenkliche dabei ist, dass er mit einem ambivalenten Naturbegriff arbeitet, ohne diese Ambivalenz deutlich zu machen, vielleicht sogar ohne sie überhaupt zu bemerken (Pol. I 2; I 5).
Zunächst führt er eine Definition ein: Eine Person herrscht genau dann von Natur aus, wenn sie zu deliberativem Denken fähig ist, also wenn sie über ethische Vernunft verfügt, und sie dient genau dann von Natur aus, wenn sie nicht zu deliberativem Denken fähig ist. In dieser Definition wird natürliche Herrschaftsfähigkeit mit der Verfügung über ethische Vernunft gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung nimmt offenbar auf die biologische Natur in keiner Weise Bezug. Wenn aus dieser Definition eine soziale oder politische Direktive folgt, dann nur die weiche Empfehlung, dass, falls es wirklich Menschen gibt, die eindeutig über ethische Vernunft verfügen, und andere Menschen, die eindeutig nicht über ethische Vernunft verfügen, die Ersteren besser über die Letzteren herrschen sollten. Wer über ethische Vernunft verfügt, ist demzufolge von seiner inneren
ethischen
Natur her zur Herrschaft fähig. Aristoteles braucht für sein Argument aber natürlich weit mehr als diese weiche Empfehlung; er braucht den Nachweis, dass Männer anders als Frauen, Eltern anders als Kinder und Herren anders als Sklaven aufgrund ihrer
biologischen
Natur über ethische Vernunft verfügen. Er muss zeigen, dass Menschen aufgrund ihrer biologischen Natur über eine ethische Natur verfügen – dass sie, um es überspitzt zu formulieren, von (biologischer) Natur aus von (ethischer) Natur aus herrschen. Denn selbst wenn es Menschen gibt, die im Sinne der Anfangsdefinition von Natur aus herrschen oder dienen, mithin faktisch über ethische Vernunft verfügen oder nicht verfügen, folgt
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