Aristoteles: Grundwissen Philosophie
fähig, eine rationale Entscheidung bezüglich einer Handlung zu treffen, wenn gute Argumente sie dazu veranlassen, die Handlung im Lichte ihres Konzepts vom Glück zu vollziehen (NE III 4–6). Auf dieser Grundlage kann Aristoteles sagen: Eine Person ist verantwortlich für eine von ihr ausgeführte Handlung, wenn sie die Handlung freiwillig vollzieht (im Sinne der verbesserten Definition) und wenn sie fähig ist, eine rationale freiwillige Entscheidung bezüglich der Handlung zu treffen. Diese Art von Verantwortlichkeit gilt offenbar weder für Tiere noch für Kinder und Aristoteles zufolge vielleicht nicht einmal für Frauen (NE III 7).
Eines der auffallendsten Merkmale der Bestimmung des Glücks, der Charaktertugenden, der rationalen Gefühle, der freiwilligen Handlungen und der rationalen Entscheidungen, die Aristoteles in seiner Ethik vorschlägt, ist das Gewicht der epistemischen Komponente in diesen Bestimmungen: Wissen steuert maßgeblich zu ethischer Motivation bei. Genau diese [98] Idee bereitet aber Schwierigkeiten, wenn es darum geht, den prekärsten der vier Charakterzustände, die Willensschwäche
(akrasia),
zu erklären. Willensschwäche ist Handeln wider besseres Wissen – der Vollzug einer Handlung im Wissen darum, dass die Handlung schlecht ist, oder das Unterlassen einer Handlung im Wissen darum, dass die Handlung gut ist. Die Beantwortung der Frage, wie Willensschwäche möglich ist, gestaltet sich schwierig (und das Phänomen der Willensschwäche wird zu einem Problem), wenn das, was gut oder schlecht ist, nicht moralisch gut oder schlecht im modernen Sinne ist, sondern das, was unser Glück befördert oder behindert. Denn wenn wir faktisch stets nach unserem Glück streben und wissen, wie wir dahin gelangen können, und daher freiwillig zu handeln in der Lage sind, wie kann es dann überhaupt Handeln wider besseres Wissen geben? Wie kann die motivationale Kraft des Wissens um den Weg zum Glück verloren gehen? Diese Frage hat bei Sokrates und dem frühen Platon zu der radikalen These geführt, dass es Willensschwäche nicht gibt. Aristoteles geht dagegen davon aus, dass das Phänomen der Willensschwäche zweifelsfrei existiert. Freilich sieht er durchaus die Schwierigkeit, dieses Phänomen im Rahmen seiner Ethik zu erklären. Eines der Indizien für diese Schwierigkeit ist, dass wir der bisher skizzierten ethischen Theorie zufolge willensschwache Personen eher bemitleiden sollten, dass aber Willensschwäche gewöhnlich getadelt wird.
Aristoteles versucht das Problem der Willensschwäche mit folgender Analyse zu lösen (NE VII 1–11): Angenommen, der folgende »praktische Syllogismus« gilt: (a) X-Dinge sind schlecht für Person P; (b) A ist ein X-Ding; folglich: (c) A ist schlecht für P. P kann nun in die Lage kommen, nicht zu erkennen, dass A schlecht für sie selbst ist, weil sie entweder zwar (a) und (b) erkennt, aber daraus nicht die Konklusion (c) ziehen kann (logisches Unwissen) oder weil sie Prämisse (b) nicht erkennen kann (materiales Unwissen). Logisches und materiales Unwissen sind in jedem Fall eine Unklarheit [99] bezüglich des individuellen Dinges A. Und ein solches Unwissen kann dadurch zustande kommen, dass die Urteilsfähigkeit von P über A durch unangemessene Gefühle (bezüglich A) getrübt wird.
Diese Analyse versucht die Idee der motivationalen Kraft des Wissens um das Glück und den Weg zum Glück zu bewahren, weil sie impliziert, dass ein ungetrübtes logisches und materiales Wissen der einschlägigen Umstände die Willensschwäche eben ausschließt: Willensschwäche muss auf eine Art von Unwissenheit zurückgehen. Solche Unwissenheit kann jedoch erklärt werden: Sie beruht auf einer emotional getrübten Erkenntnis des
Einzelnen
, die vereinbar bleibt mit einer ungetrübten Erkenntnis der
allgemeinen
Grundzüge des Glücks und des Weges zum Glück, wie sie eine aristotelische Ethik bietet.
Die Kernideen der aristotelischen Ethik, wie sie bisher skizziert wurden, verfestigen den Eindruck, dass Aristoteles eine Theorie des guten Lebens entwickelt hat, die als aufgeklärter und rationaler ethischer Egoismus auftritt. Aristoteles hat aber darüber hinaus auch die ethischen Beziehungen zu anderen Menschen in den Blick genommen. An seinen Überlegungen zur Gerechtigkeit und zur Freundschaft muss sich zeigen, ob die aristotelische Ethik auch eine Ethik des Miteinanders ist.
In vielen kulturellen Kontexten können sowohl institutionelle Regeln und Gesetze als auch
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