Aristoteles: Grundwissen Philosophie
Reichen und Armen tugendhaft werden können, sondern auch, ob alle Angehörigen des Mittelstandes tugendhaft werden können. Denn Besitzverhältnisse allein scheinen kein geeignetes Kriterium für Tugend zu sein. Aristoteles versucht diesem Einwand durch eine Analogie Rechnung zu tragen, die als »Demokratie-Argument« bekannt geworden ist: Wie das Urteil aller oder der meisten Menschen oft die Wahrheit besser trifft als die Urteile Einzelner, selbst wenn diese besser gebildet sind, so können Mehrheiten in der Polis unter guten äußeren Bedingungen praktisch besser urteilen als Einzelne, selbst wenn diese Einzelnen tugendhafter sind als der Durchschnittsbürger (Pol. III 11, 1281a, 1282b ff.).
In der Theorie der
idealen Verfassung
und des idealen Staates wird Aristoteles’ politische Einstellung zum Teil deutlicher als in seinen Überlegungen zur Politie. Auch der Idealstaat soll [122] selbstverständlich für alle Bürger ein gutes Leben ermöglichen. Dieses Ziel erfordert mäßige äußere Güter (Geld, Ehren), körperliche Güter (Gesundheit) und seelische Güter (Tugenden) für alle Bürger – das Ideal ist hier, dass alle Bürger dem Mittelstand angehören. Ein weiteres Ideal angesichts der zeitgenössischen politischen Realität besteht in der Forderung, dass der Idealstaat im Ganzen nicht tyrannisch sein sollte, d. h., dass er nicht über andere Staaten herrschen wollen und sich militärischer Aggressionen enthalten sollte (Pol. VII 1–3). Aristoteles nennt eine Reihe weiterer Bedingungen, die vielleicht von einigen, aber keineswegs von allen Stadtstaaten seiner Zeit erfüllt wurden: Der Idealstaat sollte genug Bürger haben, um politisch autark zu sein, jedoch nur so viele, dass alle einander kennen können; sein Territorium sollte so groß sein, dass er ökonomisch autark ist, aber nicht zu groß, um gut verteidigt werden zu können; er sollte von Land und See her leicht zugänglich sein, damit der Handel sich entwickeln kann; und der Kontakt mit Fremden sollte lose und gut kontrollierbar sein (Pol. VII 4–6).
Wenn Aristoteles dagegen von den wichtigsten Aufgaben und Klassen des Idealstaates spricht, dann gelten diese Überlegungen vermutlich auch für die Politie, denn sie entsprechen weitgehend der damaligen politischen Wirklichkeit. Die wichtigsten Aufgaben der Polis sind nämlich: (i) Nahrungsproduktion, (ii) Produktion von Werkzeugen, Materialien, Kleidung etc., (iii) Handel, (iv) Aufstellung einer militärischen Kraft, (v) Bereitstellung von Geld für die interne Organisation (z. B. Polizei, Gefängnisse, Kultur, politische Strukturen) sowie für eine Kriegskasse, (vi) Pflege der Religion und (vii) Entscheidungen über öffentliche Angelegenheiten. Demnach muss es sieben Klassen von Bürgern geben, die diese spezifischen Aufgaben erfüllen: Bauern, Handwerker, Kaufleute, Soldaten, Reiche, Priester, Politiker bzw. Richter (Pol. VII 6–9).
Die Auszeichnung einer Klasse von Reichen ist auf den ersten Blick überraschend. Wir müssen aber bedenken, dass es in der antiken Polis kein Steuersystem im modernen Sinne [123] gab; vor allem gab es keine Lohnsteuer (die Lohnarbeit war ohnehin nicht sehr verbreitet). Es gab zwar einige Gewerbesteuern, doch damit konnte die öffentliche Organisation nicht finanziert werden. So waren neben den Tributen von unterworfenen Staaten die Spenden der Reichen (so genannte »Liturgien«) unabdingbar – finanziert aus den Gewinnen, die auf Großfarmen oder in Manufakturen erwirtschaftet wurden. Aus der scharfen Forderung, dass alle Bürger des Idealstaates in der Lage sein müssen, die Tugenden zu realisieren, und aus der realistischen Bestandsaufnahme, dass Bauern, Handwerker und Kaufleute die Tugenden aufgrund ihrer notwendigen Arbeit nicht hinreichend zu realisieren vermögen, folgert Aristoteles, dass diese wirtschaftlich zentralen Klassen zwar notwendig für den Idealstaat sind, aber nicht zu seinen Teilen gehören: Weder Bauern noch Handwerker noch Kaufleute sollten den Bürgerstatus erhalten; Bauern sollten im Idealstaat sogar Sklaven sein. Der Bürgerstatus bleibt mithin Soldaten, Politikern bzw. Richtern und Priestern vorbehalten – jeweils denselben Personen übrigens, nur in verschiedenen Lebensabschnitten (Pol. VII 8).
Wenn wir auf den Entwurf der aristotelischen
Politik
im Ganzen blicken, wird deutlich, dass dieser Entwurf von neuzeitlichen Vertragsmodellen nicht so weit entfernt ist, wie es gewöhnlich dargestellt wird. Der Deskriptivismus und
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