Aristoteles: Grundwissen Philosophie
politische Wesen sind: sie bilden von Natur aus soziale Gemeinschaften mit natürlichen Herrschaftsformen, aber daraus unter Einsatz praktischer Vernunft von Natur aus auch politische Gemeinschaften mit politischen Herrschaftsformen. Von diesen politischen Herrschaftsformen und den entsprechenden Formen von Verfassungen und Stadtstaaten handelt der größte Teil der aristotelischen
Politik
.
Theoriestrategisch betrachtet hält Aristoteles den Begriff des Staatsbürgers (»Staat« hier und im Folgenden immer im Sinne von Stadtstaat) für fundamental, denn ein Staat ist eine Ansammlung von Staatsbürgern. Aristoteles muss dann natürlich den Staatsbürger in einer Weise bestimmen, die rein deskriptiv und gänzlich neutral gegenüber verschiedenen Verfassungen ist (Pol. III 1–5). In der Tat legt er fest: Ein Staatsbürger ist ein Bewohner einer Polis, der die Möglichkeit hat, ein beratendes oder richterliches Amt zu bekleiden. Staatsbürger sind damit nur diejenigen, deren Gemeinschaft die politische Autarkie und ein gutes Leben sichern kann, die ferner die spezifische Tugend besitzen, herrschen zu können und sich von ebenbürtigen Menschen beherrschen zu lassen, und die daher von Natur aus Herren sind. Eine Verfassung
(politeia)
einer Gemeinschaft ist dann die Menge der in der Gemeinschaft geltenden Sitten und Gesetze. Und schließlich ist ein Staat eine Gemeinschaft, die aus einer Menge von Staatsbürgern besteht und die über ihre Verfassung individuiert wird, so dass Staatsbürger und Verfassung hinreichend sind für die Etablierung und Stabilisierung der Gemeinschaft und ihr gutes Leben.
Man hat der aristotelischen Politiktheorie zum Teil eine metaphysische Hypostasierung des Staates und einen [116] Wertetotalitarismus vorgeworfen. Aber diese Kritik ist unbegründet. Jeder Staat (
polis
) wird nach Aristoteles zwar
kriteriologisch
über seine Verfassung (
politeia
) identifiziert (Pol. III 1–3), ist jedoch
ontologisch
identisch mit der Menge seiner Staatsbürger. Das wird auch daran deutlich, dass nach Aristoteles ein Staat gut und glücklich ist, wenn er ein gutes und glückliches Leben zumindest der meisten seiner Bürger ermöglicht. Und dass ein Staat rechtschaffen ist, heißt nur, dass die Bürger als Gesamtheit rechtschaffen sind: in Form ihrer Mehrheitsentscheidungen. In diesem Sinne sind die Kriterien für ein gutes Leben und den guten Staat identisch (Pol. VII 1–3). Aristoteles vertritt also keine metaphysisch-holistische Staatskonzeption, d. h., er behandelt den Staat nicht als überindividuelle Entität, die einen ontologischen und ethischen Primat gegenüber den individuellen Bürgern hat.
Ferner bestimmt der Staat nach aristotelischer Auffassung nicht, was der Bürger unter seinem Glück zu verstehen hat; das Glück wird vielmehr als ethischer Entwurf unabhängig von staatlichen Instanzen diskutiert, vor allem in philosophischen Erörterungen wie der aristotelischen Ethik. Der Staat ist nur für einige Bedingungen der Realisierung des Glücks zuständig: Aristoteles vertritt keinen staatlichen Wertetotalitarismus. Die Diskussion der besten Verfassung in der
Politik
setzt denn auch den in der
Nikomachischen Ethik
entwickelten Begriff von Glück (
eudaimonia
) und vom guten Leben ausdrücklich voraus (vgl. Pol. VII 1, 1323a 14–1324a 4) 39 .
Bemerkenswert an diesen Anfangsbestimmungen ist, dass der Staatsbürger weder durch lokales Wohnrecht noch durch Herkunft noch durch Rechtsfähigkeit definiert wird, sondern durch das Recht auf politische Aktivitäten – dieses Recht wird nicht etwa aus dem Bürgerstatus gefolgert, sondern identifiziert den Bürgerstatus. Ferner lehnt Aristoteles das Territorium als Staatskriterium ab und schlägt die Verfassung als identifizierendes Kriterium vor.
Wenn klar ist, wer im deskriptiven Sinne Staatsbürger ist, dann kann auch gefragt werden, wer Staatsbürger sein
soll
. [117] Die normative Bestimmung des Staatsbürgers wird etabliert über eine normative Bestimmung staatlicher Herrschaft (Pol. III 4–5): Angemessene staatliche Herrschaft ist paternalistisch, d. h., sie hat wie die Herrschaft über Frauen und Kinder vor allem das Wohl der Beherrschten zum Ziel. Das Wohl der Herrschenden wird dagegen nur im akzidentellen Sinne angestrebt, nämlich insofern als auch die Herrschenden einmal Beherrschte sein können. Wenn der Staat jedoch ein gutes Leben der Staatsbürger ermöglichen soll, muss staatliche Herrschaft zugleich eine Herrschaft von Freien mit
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