Aristoteles: Grundwissen Philosophie
ethischem Charakter über andere Freie mit ethischem Charakter sein, eine Herrschaft von »Gleichen über Gleiche«. Dabei sind die Tugenden des ethisch guten Menschen und des Staatsbürgers insofern verschieden, als die politischen Tugenden, im Gegensatz zu den ethischen Tugenden, auf die jeweilige Verfassung des Staates bezogen sind, in dem der Staatsbürger lebt. Aber sie sind zugleich insofern ähnlich, als die gemeinsame allgemeine Tugend des Staatsbürgers darin besteht, zu herrschen und sich beherrschen zu lassen, und die allgemeine Tugend des guten Menschen darin besteht, durch Wahl der richtigen Art von Tugend zu herrschen oder sich beherrschen zu lassen.
Nach Aristoteles folgt daraus, dass nicht jede Person, die für den Staat und seine Aufrechterhaltung notwendig ist, auch Staatsbürger sein sollte. Wer ständig arbeiten muss, kann weder ethische noch politische Tugend erwerben und kann und sollte daher kein Staatsbürger sein; Lohnarbeiter, Bauern, Frauen sowie Sklaven sollten daher keinen Bürgerstatus haben (Pol. III 5, 1277a).
Mit diesen Überlegungen wird der Kreis der Staatsbürger erheblich eingeschränkt; aber zugleich wird auch eine wichtige Gemeinsamkeit von ethischen und politischen Tugenden herausgestellt: die Notwendigkeit, das Herrschen und Beherrschtwerden reziprok zu gestalten (Pol. III 5, 1277b). Und damit bereitet Aristoteles offensichtlich ein Plädoyer für eine restriktive (auf freie und charakterlich gleiche Männer [118] eingeschränkte) radikale Demokratie vor: Bedingung angemessener und damit legitimer politischer Herrschaft ist, dass ein Herrschen um des alleinigen Nutzens für die Herrschenden willen vermieden wird und dass Herrschen und Beherrschtwerden durch ständige Neubesetzung der Ämter rotieren. Die entscheidende theoretische Schwäche dieses Ansatzes liegt darin, dass ethische Kriterien der Freiheit und des guten Charakters zentral in die politischen Grundbestimmungen eingehen, dass diese ethischen Kriterien aber politisch nicht operationalisierbar sind. Aristoteles kann keine prozeduralen Kriterien angeben, aufgrund deren ethische Grundhaltungen für politische Zwecke ermittelt werden könnten.
Wenn der Stadtstaat hauptsächlich über seine Verfassung identifiziert wird, muss die politische Theorie auch von den Verfassungen handeln. Die aristotelische Klassifikation der Verfassungen (Pol. III 6–IV 16) hat stets als bedeutender Beitrag zur politischen Wissenschaft gegolten und war historisch extrem wirkungsmächtig. Ein wichtiges Element dieser Theorie ist der Hinweis auf die Struktur angemessener Verfassungen: Eine gute Verfassung sollte aus drei Elementen bestehen: aus Ämtern, die eine Politik exekutieren, aus Gerichten, die über Privatklagen und einige politische Streitigkeiten entscheiden, und aus der Ratsversammlung, die für die wichtigsten politischen Entscheidungen zuständig ist, Gesetze verabschiedet sowie die Besetzung der Ämter regelt (Pol. IV 14–16). Diese Bestimmung erinnert nicht ganz zu Unrecht an die moderne Doktrin der politischen Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative, darf aber dennoch nicht mit dieser Doktrin gleichgesetzt werden. Denn die Ratsversammlung hat auch legislative Funktionen, und politische Entscheidungen werden zum Teil von den Gerichten gefällt – übrigens nach aristotelischer Lehre ebenso wie nach klassisch-griechischer Verfassungswirklichkeit. Und vor allem: Es wird nicht vorausgesetzt, dass alle politische Gewalt von der Ratsversammlung und damit letztlich vom Volk ausgeht: Nicht nur ist die Ratsversammlung nur aus freien männlichen Bürgern [119] zusammengesetzt, die Ämter werden auch als autonome Quelle der politischen Gewalt betrachtet.
Dass ein Staat Ratsversammlung, Ämter und Gerichte hat, ist allerdings nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung dafür, dass eine Verfassung angemessen und legitim ist. Eine weitere Bedingung wurde bereits genannt: dass die Herrschaft zum Nutzen der Beherrschten (und nur indirekt auch zum Nutzen der Herrschenden) ausgeübt wird. Diese beiden Bedingungen zusammen machen das Angemessenheitskriterium für Verfassungen aus. Des Weiteren kann eine Verfassung die Herrschaft von einem Staatsbürger, von wenigen Staatsbürgern oder von einer Mehrheit von Staatsbürgern vorsehen. Die vollständige Kombination aus diesen beiden Kriterien, also dem Angemessenheitskriterium und dem Quantitätskriterium, liefert Aristoteles’ berühmte Lehre von sechs Typen von
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