Aristoteles: Grundwissen Philosophie
Verfassungen: Die drei angemessenen Verfassungen heißen Monarchie, Aristokratie und Politie (einer, wenige oder eine Mehrheit herrschen zum Nutzen aller Staatsbürger); die drei unangemessenen Verfassungen heißen Tyrannis, Oligarchie und Demokratie (einer, wenige oder die Mehrheit herrschen allein zum eigenen Nutzen) (Pol. III 7).
Das Quantitätskriterium ermöglicht allerdings keine klare Abgrenzung zwischen wenigen und der Mehrheit, wenn der Kreis der Staatsbürger so eingeschränkt ist, wie es die aristotelische
Politik
vorschlägt. Aristoteles hat dieses Problem vermutlich gesehen, denn er liefert eine ökonomische und soziale Neubeschreibung jener vier Verfassungen nach, die vom Abgrenzungsproblem betroffen sind: In der Oligarchie herrschen die Reichen – allein zum Nutzen der Reichen; in der Demokratie herrschen die Armen – allein zum Nutzen der Armen. In der Aristokratie herrschen die Tugendhaften – zum Nutzen der Beherrschten; in der Politie herrschen die militärisch Tugendhaften und mäßig Reichen – ebenfalls zum Nutzen der Beherrschten (Pol. III 8).
Damit ist das Abgrenzungsproblem allerdings nicht befriedigend gelöst, denn es gibt keine geeigneten politischen [120] Verfahren zur Bestimmung der Tugendhaften, und finanzielle Verhältnisse zu einer Quelle von staatlicher Herrschaft zu machen, widerspricht vielen vorhergehenden Bestimmungen zum Bürgerstatus und zur staatlichen Herrschaft. Darüber hinaus ist auch das Angemessenheitskriterium problematisch, denn Aristoteles lässt offen, was genau der gemeinsame Nutzen ist; es scheint um vollständige Gerechtigkeit zu gehen, aber das ist nicht sehr aufschlussreich, wenn der Kreis der Herrschenden unbestimmt bleibt. Und wenn Aristoteles jenen Staat gerecht nennt, an dem die Bürger proportional zu ihrem Beitrag zum guten Leben aller Bürger am Staat (an Ämtern, Gerichten oder der Ratsversammlung) teilhaben, erweist sich diese Bestimmung insofern als zirkulär, als die Teilhabe an Ämtern, Gerichten oder Ratsversammlungen oft erst die Förderung des guten Lebens einiger Bürger ermöglicht und folglich nicht an einer schon gegebenen Förderung des guten Lebens in der Polis orientiert werden kann. Die aristotelische Klassifikation der Verfassungen, die einen großen Einfluss auf viele spätere politische Theoretiker in Antike und Frühmoderne gehabt hat, ist also mit erheblichen Problemen belastet.
Eine der Besonderheiten der politischen Theorie des Aristoteles ist, dass sie zwei verschiedene Verfassungstheorien enthält: die Theorie der idealen Verfassung und die Theorie der besten realisierbaren Verfassung. Die Theorie der idealen Verfassung ist auf das siebte Buch der
Politik
beschränkt und ist wahrscheinlich früher verfasst (und Platons Theorie des idealen Staates näher) als die Bücher III–VI, in denen u. a. die Theorie der besten realisierbaren Verfassung präsentiert wird. 40 Andererseits ist die Abgrenzung zwischen beiden Theorien nicht immer klar; viele Bestimmungen der idealen Verfassung scheinen auch für den gewöhnlichen realisierbaren Staat zu gelten, z. B. die wichtigsten Klassen von Bürgern und ihre Aufgaben.
Aristoteles geht davon aus, dass die
beste realisierbare Verfassung
folgende Kriterien erfüllen muss: Garantie von [121] Mehrheitsentscheidungen (politisches Kriterium), Herrschaft der mäßig Wohlhabenden (ökonomisches Kriterium), Rotation der Herrschaft von Freien über Freie (soziales Kriterium), Herrschaft der Tugendhaften (ethisches Kriterium) und Minimierung der Umsturzgefahr (Stabilitätskriterium). In einer Verfassung, die diese Kriterien erfüllt, muss der Mittelstand, der durch mäßigen Besitz und natürliche Freiheit definiert ist, größer sein als die Klasse der Superreichen und die Klasse der Armen. Außerdem müssen Legislative und Judikative den Mehrheitsentscheidungen unterworfen sein. Diese Bedingungen gelten nur für die Politie. Daher ist unter den sechs Arten von Verfassungen die Politie mit starkem Mittelstand die beste realisierbare Verfassung. Aristoteles führt dafür drei Gründe an. Der Mittelstand ist am ehesten fähig zu regieren
und
regiert zu werden; er hat außerdem die besten Chancen, tugendhaft zu werden; und seine Zufriedenheit sichert politische Stabilität. Die Armen hingegen können nicht regieren und sind bösartig im Kleinen, während die Superreichen sich nicht regieren lassen und schlecht im Großen sind (Pol. IV 8–13).
Allerdings lässt sich nicht nur bezweifeln, dass die
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