Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
die Ziele selbst seien der Verfügung des Menschen entzogen und der Mensch sei für die Ziele seines Handelns letztlich nicht verantwortlich. Das kann nicht gemeint sein. Dass der Mensch sich für eine bestimmte Lebensform und damit ein fundamentales Ziel seines Lebens entscheidet (EN I 3, 1095 b 20), gehört zu den Grundvoraussetzungen der aristotelischen Ethik. Aber auf dem Wege zum Endziel setzt sich der Mensch Zwischenziele für jeweils einzelne konkrete Handlungen und entscheidet sich dann für bestimmte Schritte, dieses Ziel zu erreichen, das damit gesetzt ist und nicht noch einmal in Frage gestellt wird. Für das Ziel als ein Gewolltes ist der Mensch sehr wohl ebenso verantwortlich wie für die Schritte zum Ziel der einmal getroffenen Entscheidung (III 7, 1113 b 3–5). Von ungeheurer, von Aristoteles in seiner Tragweite nur angedeuteter Bedeutung ist dabei der Satz: «Überall, wo es in unserer Macht steht, zu handeln, steht es auch in unserer Macht, nicht zu handeln» (III 7, 1113 b 7–8). Das Nicht-Handeln in einer Situation, die ein Handeln erfordert, nennt Aristoteles «schändlich», und es lohnt sich, über diese Wertung, die ganz folgerichtig im ethischen System des Aristoteles begründet ist, nachzudenken.
D IE ETHISCHEN T UGENDEN II
Nachdem Aristoteles die Tugend als Mitte zwischen den Extremen definiert, die ethischen Tugenden im Einzelnen aufgezählt, kurz skizziert und zusätzliche Bestimmungen getroffen hat, geht er nun dazu über, die ethischen Tugenden und ihre Extreme des Zuviel und des Zuwenig ausführlich zu analysieren (III 9–V 14). Dabei finden sich einige Merkmale der Analyse immer wieder. So unterscheidet Aristoteles sowohl bei den Tugenden selbst als auch bei ihren Extremformen jeweils mehrere Unterarten, so zum Beispiel bei der Tapferkeit die Tapferkeit im Felde (die herausgehoben an erster Stelle steht) und die Zivilcourage sowie deren Unterarten. Bei der Behandlung der ‹Kardinaltugenden› (hier also Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit) steht die Auseinandersetzung mit Platon nicht im Vordergrund, sondern wird nur andeutungsweise spürbar. Ferner: Die einzelnen Tugenden werden veranschaulicht durch Charakterskizzen von «Situationstypen»,[ 8 ] wie wir sie so bei Platon nicht finden. Sie stehen aber in Übereinstimmung mit einem Trend der Zeit, wie er sich etwa in der gleichzeitigen Mittleren und bald danach in der Neuen Komödie findet (Menander, Dyskolos = «der Schwierige», 2. Hälfte des 4. Jh.s v. Chr.). Auch die Charaktere Theophrasts nehmen von der Skizzierung der Extremformen der ethischen Tugenden ihren Ausgang. Manches bleibt nur Andeutung. Völlig unvermittelt erscheint die geradezu erschreckende Bemerkung, es gebe «Furchterregendes, das über Menschliches hinausgeht» (III 10, 1115 b 7), also was furchtbarer ist, als es ein Mensch ertragen kann. Woran Aristoteles gedacht hat, sagt er nicht. Die antiken Kommentatoren nennen Naturkatastrophen wie Erdbeben, Sintfluten oder Ähnliches. Wir können es heute nachfühlen.
Herausragend ist die Charakteristik des «Hochsinnigen» oder «Großgesinnten»die einst Werner Jaeger (1931) übersetzt und in der «beispielhaften Bedeutung dieses Stückes … für das Wesen des antiken Menschen und der antiken Kultur überhaupt» gewürdigt hat.[ 9 ] Und in der Tat kumuliert im «Großgesinnten» die Essenz aller Tugenden.
Wenn er wirklich des Größten würdig ist, so muss der Großgesinnte der Mann höchster Vortrefflichkeit sein … In keiner Weise würde es zu ihm passen, Hals über Kopf zu fliehen, ebensowenig Unrecht zu tun … Gegenüber Reichtum, Macht und jeglichem Glück oder Unglück, wie es auch kommen mag, wird sein Verhalten das richtige Maß wahren, und er wird weder in guten Tagen allzu froh sein noch in schlechten Tagen allzu traurig … Gerne erweist er Wohltaten, doch solche zu empfangen schämt er sich, denn jenes ist ein Zeichen der Überlegenheit, dieses von Abhängigkeit … Der Großgesinnte steht auch in dem Ruf, ein gutes Gedächtnis zu haben für Menschen, denen er Wohltaten erwiesen hat, nicht aber für empfangene Wohltaten … Zur Art des Großgesinnten gehört es auch, niemanden zu bitten oder nur ungern, aber bereitwillig zu helfen. Gegenüber Menschen in hoher Stellung und glücklicher Lage ist er der große Mann, gegen gewöhnliche Leute macht er seine Überlegenheit nicht geltend. … Offen muss er im Hass sein und offen in der Liebe, denn Heimlichkeit ist ein Beweis von Furcht. … Er
Weitere Kostenlose Bücher