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Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)

Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)

Titel: Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmut Flashar
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Gesamtsystem der ethischen Tugenden eingeordnet werden soll, dann muss sie eine Mitte zwischen zwei Extremen darstellen und als Teilerscheinung gegen die anderen ethischen Tugenden abgrenzbar sein. So sagt denn Aristoteles ausdrücklich, er wolle bei der Behandlung der Gerechtigkeit «nach der gleichen Methode verfahren wie im Vorangegangenen» (V 1, 1129 a 3). Entsprechend bezeichnet er auch die Gerechtigkeit als eine «Mitte», aber er nennt hier zunächst nur ein Extrem, die Ungerechtigkeit, während man sich das andere Extrem, das Aristoteles nicht nennt, etwa im Sinne einer spitzfindigen Paragraphenreiterei doch durchaus vorstellen könnte. Das Hauptproblem liegt aber in der Integration der Gerechtigkeit in das Gesamtsystem der ethischen Tugenden. Zu diesem Zweck unterscheidet Aristoteles zwischen einer allgemeinen und einer partikularen Gerechtigkeit. Über die allgemeine Gerechtigkeit sagt er: «Diese Gerechtigkeit ist nicht ein Teil der Tugend, sondern die Tugend in ihrem ganzen Umfang.» Diese allgemeine Gerechtigkeit wird auffallend kurz in den ersten drei Kapiteln des fünften Buches der Nikomachischen Ethik behandelt. Über ihren Inhalt wird kaum mehr mitgeteilt, als dass sie in einer Achtung der Gesetze besteht, da die Gesetze dazu anleiten, sich tapfer, besonnen und milde zu verhalten und überhaupt alle ethischen Tugenden zu verwirklichen. Auf die philosophische Dimension dieses umfassenden Gerechtigkeitsbegriffes lässt sich Aristoteles hier nicht näher ein, zumal ihm die platonische Konzeption einer transzendent verwurzelten Gerechtigkeit im Zusammenwirken der Seelenteile beim einzelnen Menschen und analog dazu der Stände im Staat ganz fernliegt.[ 11 ]
    Umso mehr interessiert ihn die partikulare Gerechtigkeit: «Wir suchen die Gerechtigkeit, insofern sie eine Teilerscheinung der (umfassenden) Tugend ist» (V 4, 1130 a 14). Diese partikulare Gerechtigkeit gliedert Aristoteles in eine austeilende und eine ausgleichende Gerechtigkeit. Die «austeilende» (oder: distributive) Gerechtigkeit betrifft die Austeilung von Ämtern und Machtbefugnissen sowie von Geld aus öffentlichen Mitteln unter den Bürgern. Dass dabei die Gerechtigkeit als Mitte erscheint, ist durchaus plausibel, gibt es doch gerade beim «Austeilen» ein Zuviel (beispielsweise Ämterhäufung) und ein Zuwenig (Vorenthalten von Zuwendungen). Aristoteles sieht diese Form der Gerechtigkeit als eine «Gleichheit» an im Sinne eines proportionalen Verhältnisses. Geber und Nehmer sowie das zu vergebende und das empfangene Gut stehen in einem Analogieverhältnis zueinander, und zwar im Sinne der «Angemessenheit» (V 6, 1131 a 24), wobei eine Schwierigkeit darin liegt, dass in den verschiedenen Staatsformen unter Angemessenheit jeweils etwas Verschiedenes verstanden wird.
    Die zweite Grundform der partikularen Gerechtigkeit, die ausgleichende Gerechtigkeit, betrifft vertragliche Beziehungen zwischenmenschlicher Art. Dabei unterscheidet Aristoteles zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Geschäftsbeziehungen. Zu den freiwilligen zählen Kauf, Verkauf, Miete, Leihgeschäfte und Bürgschaften, zu den unfreiwilligen die Verletzung vertraglicher und vertragsähnlicher Beziehungen durch Diebstahl, Ehebruch, Mord, Meineid usw. Die freiwilligen Geschäftsbeziehungen handeln von der Tauschgerechtigkeit. Gerechtigkeit herrscht bei einer fairen Beziehung zwischen Bedürfnis und Befriedigung des Bedürfnisses auf der Basis der Gleichheit nicht der Personen (sie müssen ungleich sein; zwei Ärzte bilden keine Bedarfsgemeinschaft), sondern von Leistung und Gegenleistung. Um dieses Verhältnis messbar zu machen, hat man das Geld erfunden (V 8, 1133 b 12), das trotz schwankenden Kurswertes Garant (wörtlich: Bürge,für die Messbarkeit der Waren darstellt mit dem zusätzlichen Vorteil, dass der Austausch von Leistung und Gegenleistung im Unterschied zum unmittelbaren Warenaustausch nicht gleichzeitig stattfinden muss. Es wird deutlich, dass Aristoteles mit diesen Gedankengängen mehr an die Tatbestände von Recht und Rechtsverletzung als an die Gerechtigkeit als tugendhafte Gesinnung denkt. Das ist auch der Fall bei den «unfreiwilligen» Geschäftsbeziehungen. Dabei gibt es eine korrigierende Gerechtigkeit durch die Justiz. Der Richter, als Mann der Mitte und Inbegriff der Gerechtigkeit, muss einen Ausgleich vornehmen, indem er die ungerechte Verteilung von Gewinn oder Schaden durch Strafen oder andere Verfügungen wieder zu einer Gleichheit und damit

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