Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Denn es gibt Grenzfälle. Ein Tyrann, der Kinder oder Eltern in seiner Gewalt hat, befiehlt ein Verbrechen. Soll man es ausführen, um Kinder oder Eltern zu retten? Wie ist eine solche Handlung zu bewerten? Oder: Ein Kapitän lässt eine wertvolle Ladung ins Meer werfen (was normalerweise kein Vernünftiger tun würde), um in einem Seesturm das Schiff zu retten. Ist die Handlung freiwillig oder durch Umstände herbeigeführt? Offenbar gibt es Mischformen, deren Freiwilligkeitscharakter von Zeitpunkt und Umständen der Handlung abhängig ist. Jedenfalls gilt eine Handlung als unfreiwillig, wenn der Ursprung außerhalb des Handelnden liegt.
Eine besonders hoch zu bewertende Handlung liegt vor, wenn der Handelnde dabei Schmerzen oder andere Unannehmlichkeiten bewusst und freiwillig in Kauf nimmt. Neben der Einschränkung der Freiwilligkeit durch Gewalt sieht Aristoteles auch eine Form der Unfreiwilligkeit im Unwissen, zum Beispiel darüber, dass ein vermeintlicher Heiltrunk aus Gift besteht oder der Feind der eigene Sohn ist. Nicht gelten lässt Aristoteles die Lockungen der Lust als mildernden Umstand der Zurechenbarkeit. Kurz: Im Bereiche von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit gibt es nicht nur die reine Alternative, sondern Mischhandlungen, freiwillige Handlungen mit unfreiwilligem Anteil und umgekehrt. Aristoteles illustriert die verschiedenen Optionen mit Beispielen aus dem täglichen Leben und Zitaten aus der Tragödie. Dabei erhält die Frage der Zurechenbarkeit auch eine juristische Dimension, die jedoch nicht die Oberhand in der Argumentation gewinnt. Vielmehr geht es bei der Differenzierung zwischen freiwilligen, nicht-freiwilligen und unfreiwilligen Handlungen immer um den Rückschluss auf das Ethos des Handelnden. Deshalb spielen auch bei der Erörterung der Freiwilligkeit Gefühle eine Rolle, und zwar nicht nur vor, sondern auch nach der Handlung. Stellen sich nach einer Tat Gefühle des Bedauerns oder gar des Schmerzes ein, so ist die unabsichtlich eingetretene Situation nicht Ergebnis eines freiwilligen Handelns im vollen Sinne.
Eine nähere Präzisierung des Handelns im Verhältnis zum Ethos bringt die Erörterung des Begriffes «Entscheidung»wörtlich: «Bevorzugung», III 4–5). Ein ethisch relevantes Handeln ist stets Ergebnis einer Entscheidung. Diese ist freiwillig, aber nicht alles Freiwillige ist Gegenstand einer Entscheidung, sondern nur das «was in unserer Macht»III 4, 1111 b 30) steht. Das aber ist bei weitem nicht alles, was den Menschen betrifft, sondern nur das, was der Mensch gestalten kann, also nicht mathematische Sachverhalte wie die Kommensurabilität von Diagonale und Quadratseite, auch nicht Naturgesetze wie Sonnenwenden und Gestirnaufgänge, auch nicht Naturgewalten wie Dürre und Regenfälle oder reine Fügungen des Zufalls. Die Entscheidung bezieht sich auch nicht auf alles, was man wollen kann, etwa die Gesundheit, sondern auf die Schritte dahin und die Mittel dazu, und zwar mit planender Überlegung. Kein Arzt überlegt sich, ob er überhaupt heilen soll, sondern er wählt die Mittel, die zum Ziel, zur Heilung, führen. Ebenso überlegt sich kein (vernünftiger) Staatsmann, ob er überhaupt einen wohlgeordneten Staat schaffen soll, sondern er entscheidet sich für bestimmte Maßnahmen, um das Ziel zu erreichen. Die «Entscheidung» bezieht sich also auf die Wahl der Mittel, nicht der Ziele. Aber auch dabei schränkt Aristoteles noch weiter ein. Eine Entscheidung ist nur da am Platze, wo sie auch ausführbar ist. Es gibt vernünftige und ethisch wertvolle Vorhaben, zu deren Verwirklichung man Geld braucht, das man nicht herbeischaffen kann; dann können solche Vorhaben nicht Gegenstand einer Entscheidung sein. Die Hilfe von Freunden jedoch ist bei einer Entscheidung einplanbar; Freunde sind wie das Eigene. Insgesamt gilt: Der Ursprung des Überlegens, das zu einer Entscheidung führt, muss in uns selber liegen. Dabei muss das einer Entscheidung vorausgehende Überlegen auch einmal ein Ende finden. Wer endlos hin und her überlegt, kommt nie zu einer Entscheidung. So definiert denn Aristoteles die «Entscheidung» als «ein überlegtes Streben nach dem, was in unserer Macht steht, wobei wir auf Grund von Überlegungen eine Entscheidung treffen und dann entsprechend der (vorausgegangenen) Überlegung danach streben» (III 5, 1113 a 12).
Wenn das Entscheiden, das zum Handeln führt, immer nur die Mittel zum Ziel betrifft, so könnte der Eindruck entstehen, Aristoteles meine,
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