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Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)

Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)

Titel: Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmut Flashar
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anderem Hans-Georg Gadamer und Joachim Ritter als Studenten teilnahmen.[ 18 ] In diesem Seminar habe man auch um die Übersetzung der Begriffe für die dianoetischen Tugenden gerungen. Heidegger habe bei der Phronesis die «Augenblickbestimmtheit» betont und sie als «sorgende Umsicht» bezeichnet. Schließlich habe er zur Verwunderung der Seminarteilnehmer emphatisch ausgerufen, Phronesis sei das «Gewissen», allerdings in einem ganz bestimmten Sinne, nämlich als «das rufend zu Verstehen Gebende» und damit als das Erschließen des Daseins durch den Modus der Rede.[ 19 ] Grundlage für Heideggers Seminar dürfte ein lange Zeit unbekannt gebliebenes, erst 1989 veröffentlichtes 50 Seiten umfassendes Manuskript aus dem Jahre 1922 mit dem Titel Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation) sein,[ 20 ] in dem es ein kurzes Kapitel mit der Überschrift Eth. Nic. VI gibt. Darin übersetzt Heidegger die fünf dianoetischen Tugenden mit: (1) «verrichtend herstellendes Verfahren»(2) «hinsehend-besprechend-ausweisendes Bestimmen»(3) «fürsorgliches Sichumsehen» und an anderer Stelle «das handelnde, fürsorgliche Behandeln»(4) «eigentlich-sehendes Verstehen»(5) «reines Vernehmen»während die Übersetzung von Phronesis mit «Gewissen» hier (ein Jahr vor dem Freiburger Seminar) noch nicht vorkommt.
    Heidegger meinte mit diesen Interpretationen ausdrücklich die «Klärung der hermeneutischen Situation», und in der Tat dürfte dieses Seminar der Ausgangspunkt für die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so einflussreiche Hermeneutik Hans-Georg Gadamers gewesen sein, wie sie in dem zuerst 1960 veröffentlichten Buch Wahrheit und Methode ihren Ausdruck findet. Darin heißt es in dem Kapitel Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems: «Wo nicht näher vermerkt, folgen wir künftig dem 6. Buch der Nikomachischen Ethik» .[ 21 ] Die Spannung zwischen Verstehen und Anwenden in der mit dem Begriff Phronesis gegebenen Bemessung der Rolle, die die Vernunft im sittlichen Handeln zu spielen hat, die Anwendung von etwas Allgemeinem auf das Besondere, die methodische Überwindung der Isolierung von Subjekt und Objekt, indem beide Seiten dialektisch integriert werden, weil der Handelnde, von dem, was er erkennt und entscheidet, selbst betroffen ist, und wie dadurch das Problem der Methode eine moralische Dimension bekommt – das alles sind Grundsätze der aristotelischen Ethik, die für Gadamer Modell und Analogie für das hermeneutische Problem der modernen Geisteswissenschaften darstellen. Dies erweist sich bei der juristischen, theologischen und historischen Hermeneutik in der Spannung zwischen dem zu verstehenden Text (etwa einem Gesetz) und dem in einer konkreten geschichtlichen Situation stehenden und in der Anwendung mitbetroffenen Verstehenden und Auslegenden. Die Auslegung von Texten ist dabei immer schon mitbedingt von vorangegangenen Interpretationen, die aus der jeweiligen konkreten Situation neu zu verstehen und zu deuten sind, und zwar so weit, dass sich zwischen dem Interpreten und seinem Objekt eine Art «Horizontverschmelzung» ereignet. Man hat in diesen Ausführungen Gadamers mit gewissem Recht einen romantischen Antirationalismus gesehen und im Gegenzug dazu einer Rehabilitation des Realismus das Wort geredet, in dem der auszulegende oder anzuwendende Text wieder eine Größe für sich ist, zu der der Interpret ein sich dem Text annäherndes, approximatives Verhältnis gewinnt.[ 22 ] Aber das geht dann schon über Aristoteles hinaus.
    B EHERRSCHTHEIT UND U NBEHERRSCHTHEIT
    Klar ist: Der Unbeherrschte kann nicht glücklich sein. Aber Aristoteles zieht diese einfache Folgerung aus seinem Ansatz nicht explizit, sondern will einen anderen Anfang als Ausgangspunkt (VII 1, 1145 a 15) nehmen und legt im Umfang von immerhin elf Kapiteln (ca. 18 Seiten) eine Analyse der Beherrschtheit und Unbeherrschtheit vor, die in den meisten neueren Aristoteles-Monographien übergangen wird.[ 23 ] Zunächst setzt Aristoteles den Tugenden drei Arten von schlechten Charaktereigenschaften entgegen, die «Schlechtigkeit»als bloßen Gegensatz zur Tugend, die «Unbeherrschtheit»und das «tierische Wesen»Während die Schlechtigkeit als den einzelnen Tugenden jeweils entgegengesetzte Extremformen des Zuviel und des Zuwenig schon behandelt worden war und im Folgenden die Unbeherrschtheit zur Sprache kommt, wird das «tierische Wesen» nur in Andeutungen deutlich. Es fällt

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