Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
«Junge Leute können in Geometrie, Mathematik und ähnlichen Fächern wissend, aber gleichwohl nicht klug (im Sinne der Verwirklichung der ethischen Tugenden) sein» (VI 5, 1142 a 12). Auffallend wenig wird übrigens in diesem Buch über das «Denken»gesagt, obwohl dieser Begriff in anderen Zusammenhängen eine enorme Rolle bei Aristoteles spielt. Gerade in diesem Buch würzen Dichterzitate (Homer, Euripides, Agathon) die Argumentation; gelegentlich wird der Stil erhaben: «So ist denn Weisheit Denken und Wissenschaft zusammengenommen eine wie ein Haupt über die andere gestellte Wissenschaft von den ehrwürdigsten Dingen» (VI 7, 1141 a 18–20).
Nach Ausscheiden dieser erhabenen, auf das Ewige gerichteten Formen des Wissens bleiben nur noch zwei dianoetische Tugenden übrig, die sich auf das Veränderbare und damit auf die Welt des Handelns beziehen: «Praktisches Können»und «Klugheit»Hier greift nun die wichtige Unterscheidung zwischen «Handeln»und «Herstellen»«Herstellen» ist kein Selbstzweck, sondern ist immer Gestalten von etwas. Es wird geleitet von dem «praktischen Können», welches in einer festen Grundhaltung besteht, die mit richtiger Planung auf ein Herstellen abzielt (VI 4, 1140 a 10). Modell für diesen Bereich ist das Handwerk und alles, was wir heute «Technik» nennen, wie denn auch diese Form des Wissens als «Fachwissen» Techneheißt.
Diese auf ein technisches Teilziel gerichtete dianoetische Tugend kann aber nicht die oberste Instanz für ethisch wertvolles Handeln sein. Technik ist, für sich genommen, ohne moralische Dimension – das ist der Gedanke, der der Argumentation des Aristoteles zugrunde liegt.
Es bleibt daher nur eine einzige dianoetische Tugend übrig, die für das ethisch wertvolle Handeln zuständig ist, die «Klugheit»[ 13 ] Sie ist ein Leitbegriff der aristotelischen Ethik von enormer Tragweite. Die Schwierigkeit der Interpretation beginnt mit einer adäquaten Übersetzung. «Sittliche Einsicht» oder «praktische Umsicht» sind teils zu eng, teils missverständlich. Bei «Klugheit» muss die Bedeutungspalette der gerissenen Cleverness ausgeblendet und die ethische Komponente mitgedacht werden. Hinzu kommt, dass der Begriff Phronesis sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles je nach Kontext die auf das Ewige bezogene theoretische Schau als auch die auf das Ethos gerichtete praktische Klugheit bedeuten kann.[ 14 ] Platon hat sogar einmal Phronesis als Oberbegriff für beide Aspekte gebraucht.[ 15 ] Dabei ist «die schönste Phronesis» auf die Organisation von Staats- und Hauswesen bezogen, wobei als Träger der Phronesis im platonischen Sinn der gilt, der die Idee des Guten geschaut hat.
Aristoteles legt aber im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik allen Nachdruck darauf, dass die durch Phronesis bezeichnete Klugheit sich ausschließlich auf den Bereich des Handelns bezieht, in dem die ethischen Tugenden angesiedelt sind. So definiert er denn die Phronesis als «mit richtiger Planung verbundene Grundhaltung, die sich auf das Handeln im Bereiche der menschlichen Güter bezieht» (VI 5, 1140 b 20f.). Fragt man aber nach einer objektivierenden Instanz als Letztbegründung für diese Phronesis, wie es für Platon die Idee des Guten ist, so erhält man bei Aristoteles Antworten, die einigermaßen vage klingen. Man muss es so machen, wie es «der richtige Logos» oder «der wahre Logos», also die richtige Planung oder Überlegung festlegt. Diese «richtigen Planungen bzw. Überlegungen» durchwalten wie «graue Eminenzen»[ 16 ] die ganze aristotelische Ethik.[ 17 ] Es sind nicht weiter hinterfragbare, aus Erfahrung und Tradition gewonnene Regeln, deren Beachtung zu richtiger Entscheidung für die Verwirklichung der ethischen Tugenden führt. Aristoteles meint, dass die Fähigkeit des Verwirklichens der ethischen Tugenden keine Steigerung durch ein Wissen von transzendentalen Wesenheiten erfährt (VI 13, 1143 b 24). Gleichwohl steht die Phronesis als praktische Klugheit nicht über der Weisheitdie dem wertvollsten Seelenvermögen in uns entspricht.
Das sechste Buch der Nikomachischen Ethik ist in der Gegenwart philosophisch bedeutsam geworden als einer der Grundpfeiler der Hermeneutik, wobei wiederum der Begriff «Phronesis» im Mittelpunkt steht. Der Ausgangspunkt liegt in einem offenbar aufregenden Seminar, das Martin Heidegger im Sommersemester 1923 in Freiburg hielt (kurz bevor er im folgenden Semester nach Marburg berufen werden sollte), an dem unter
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