Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
sichtlich aus dem Tugendschema heraus als etwas ‹Inhumanes›, Unter-Menschliches, dessen Gegensatz etwas Heroisches, eine Art ‹Übermensch› ist mit einem menschliches Maß übersteigenden Grad an Vollkommenheit. Menschen, die an Schlechtigkeit alles übertreffen, werden mit dem «entehrenden Namen» (VII 1, 1145 a 33) «tierisch» bezeichnet, was wir aus eigenen Erfahrungen von Brutalität oder Bestialität nachvollziehen können. Verstörend mutet es uns an, dass Aristoteles auch verkrüppelte und von Krankheit gezeichnete Menschen in diese Kategorie einreiht (VII 1, 1145 a 31).
Aber im Folgenden geht es um die Beherrschtheit und Unbeherrschtheit. Das Thema hat seine besondere Relevanz in den akademischen Schuldiskussionen im Gefolge des sokratischen Satzes, niemand würde bei vollem Wissen falsch handeln und demzufolge sich nicht von etwas Anderem beherrschen lassen. Danach könne es eine Unbeherrschtheit bei einem Menschen, der ein Wissen um den Sachverhalt hat, eigentlich gar nicht geben. In der Tat erwähnt Aristoteles zweimal namentlich Sokrates (VII 3, 1145 b 23, 25), wobei er immer den Sokrates meint, wie Platon ihn darstellt. Aristoteles zitiert in diesem Kontext geradezu Platons Dialog Protagoras [ 24 ] und dabei eine Erörterung darüber, ob Wissen (bzw. Erkenntnis) etwas Leitendes und Beherrschendes sei oder von Unbeherrschtheit verdrängt werden könne ( Protagoras 352 B–353 B). Das Problem ist also, ob jemand etwas tut, von dem er weiß, dass es schlecht ist.
Die sokratische Position, wonach Unbeherrschtheit ein Handeln aus Unwissenheit darstellt, wird von Aristoteles kritisiert. Sie widerstreitet jeglicher Erfahrung und Sokrates hätte näher differenzieren müssen, um was für eine Art von Wissen es geht und wie im Falle der Unbeherrschtheit die (angebliche) Unwissenheit zustande kommt. Aber auch die etwas abgemilderte Version, wonach das Wissen des Unbeherrschten nur schwach, nur eine «Meinung»sei und diese von der andrängenden Versuchung zur Unbeherrschtheit übermächtigt werde, überzeugt nicht, zumal der nur «Meinende» glaubt, er habe ein sicheres Wissen. Wer unter diesen Gegebenheiten unbeherrscht handelt, kann allenfalls Nachsicht finden, sofern es sich nicht um eine ganz verderbte Natur handelt. Letztlich aber macht es keinen Unterschied, geht es doch nicht um den objektiven Wahrheitsgehalt des Gewussten, sondern um den «Grad der subjektiven Überzeugung» des Handelnden.[ 25 ]
Einen Schritt weiter kommt Aristoteles durch eine Differenzierung des Begriff s «Wissen» in einen aktiven und einen passiven Aspekt. Wer ein Wissen hat und es im konkreten Handeln auch wirksam werden lässt, kann in der Tat nicht unbeherrscht handeln, wohl aber der, der sein Wissen in Schlaf, Wahnsinn oder Trunkenheit, also wenn er nicht zurechnungsfähig ist, ruhen lässt und nicht aktiviert (VII 5, 1146 b 31–1147 a 14). Eine weitere Differenzierung des Wissensbegriffes besteht darin, dass unter den genannten Bedingungen Menschen im Zustande der Unbeherrschtheit den Anschein von Wissen erwecken können.
Dass man Sätze ausspricht, die so klingen wie Sätze, die aus Wissen stammen, ist kein Zeichen dafür, dass man Wissen wirklich hat. Denn auch die Menschen, die in den genannten Leidenschaften verfangen sind, sprechen wissenschaftliche Deduktionen aus oder rezitieren Verse des Empedokles. Und wer eben begonnen hat, etwas zu lernen, der reiht die Lehrsätze zwar aneinander, aber er hat noch kein Wissen. Vielmehr muss der Gegenstand erst ganz mit dem Menschen verwachsen und das braucht Zeit. Was also ein Mensch im Zustand der Unbeherrschtheit spricht, braucht nicht anders aufgefasst zu werden als die Rede eines Schauspielers (VII 5, 1147 a 18–24).
Analog zur Differenzierung des Wissens werden nun auch verschiedene Formen der «Unbeherrschtheit» unterschieden, im Wesentlichen zwei, eine allgemeine und eine nur auf bestimmte Gebiete bezogene Unbeherrschtheit (VII 6, 1147 b 20ff.). Dazu rechnet Aristoteles «alles Körperliche», übermäßigen Nahrungs- und Liebesgenuss, auch schlechte Gewohnheiten wie das Kauen von Nägeln oder das Rupfen an den Haaren, dann aber auch die Päderastie (VII 6, 1148 b 28), die Aristoteles als eine Form der Unbeherrschtheit ansieht, die teils auf Naturanlage beruht, teils auf Gewohnheit, so bei denen, die «von Kindheit an missbraucht worden sind»und für die diese Praxis dann zur Gewohnheit und von Aristoteles als Form der Unbeherrschtheit abgelehnt wird.
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