Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Erkenntnisse beimisst. In Buch IV wird dann die Wissenschaft vom Seienden als Seiendem in den Blick genommen und von allen anderen Wissenschaften abgegrenzt, insofern es um «das Seiende als Seiendes»geht. Zur Seinswissenschaft gehört aber auch eine Untersuchung der Axiome, insbesondere der Satz vom Widerspruch (eine Bezeichnung kann unmöglich gleichzeitig einer Sache zukommen und nicht zukommen) und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (eine Sache kann man behaupten oder bestreiten; tertium non datur). Es werden also die Grundvoraussetzungen des Denkens diskutiert. Das fünfte Buch (Δ) ist ein Lexikon der philosophischen Terminologie. Insgesamt 30 verschiedene Ausdrücke (Prinzip, Ursache, Notwendigkeit usw.) werden im Einzelnen bestimmt. In dem gewichtigen sechsten Buch (E) wird die Wissenschaft vom Seienden als solche vorgestellt. Die Bücher VII, VIII, IX (Z, H ,bilden einen Block für sich. Es sind die sogenannten Substanzbücher, in denen die verschiedenen Bedeutungen von «Substanz» (das Allgemeine, Gattung, Substrat) analysiert werden. Das zehnte Buch (I) handelt über das «Eine» und verwandte Begriffe (Identität, Nichtidentität, Ähnlichkeit, Gegenteil). Das elfte Buch (K) mit der Erörterung von Grundproblemen der Ersten Philosophie gilt den meisten Forschern als eine nacharistotelische Kompilation. Das berühmte zwölfte Buchenthält die als Theologie verstandene Lehre vom Unbewegten Beweger. Die zusammenhängenden Bücher XIII und XIV (M, N) handeln von den Ideen, Ideenzahlen und Prinzipien mit ausführlicher Kritik an den entsprechenden pythagoreischen und akademischen Lehren.
Über die chronologische Abfolge der einzelnen Bücher der Metaphysik gibt es in der Forschung eine lebhafte Diskussion mit ganz unterschiedlichen Positionen, deren sachlicher Ertrag nicht so erheblich ist, wie man lange Zeit geglaubt hat.
K ONZEPTIONEN DES S EINS VOR A RISTOTELES
( METAPHYSIK A)
Aristoteles beginnt nahezu jede Erörterung mit einer kritischen Musterung der bereits vorliegenden Meinungen zur gleichen Thematik. Die Frage nach dem Sein, die Platon als «Gigantenschlacht»bezeichnet hat ( Sophistes 246 A), betrifft das Zentrum jeder Philosophie und entsprechend hat Aristoteles der Darstellung der Ansichten Früherer in diesem Falle ein ganzes Buch gewidmet.[ 2 ]
An den Anfang stellt er die Untersuchung über die Meinungen der früheren Philosophen in den ersten drei einleitenden Kapiteln in einen weiten Horizont, mit den berühmten Worten gleich zu Beginn:
Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Ein Zeichen dafür ist die Wertschätzung der Sinneswahrnehmungen. Denn auch abgesehen von ihrem Nutzen schätzt man sie um ihrer selbst willen, und vor allen anderen die Wahrnehmung mittels der Augen. Denn nicht nur, um zu handeln, sondern auch wenn wir nicht gerade handeln wollen, ziehen wir das Sehen sozusagen allen anderen (Wahrnehmungen) vor. Der Grund dafür ist, dass dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis verschafft und viele Unterschiede offenbart (Met. I 1, 980 a 21–27).
Aristoteles geht auch hier von der Natürlichkeit aller Verhältnisse aus, wiederum in biologischer Betrachtungsweise, wie vor allem die Fortsetzung zeigt:
Von Natur aus haben die Tiere sinnliche Wahrnehmung, aus der sinnlichen Wahrnehmung entsteht bei einigen Erinnerung, bei anderen nicht, und darum sind jene verständiger und gelehriger als die, die sich nicht erinnern können (Met. I 1, 980 a 27–b 2).
Nur der Mensch hat wirkliche Erfahrung und ist befähigt zu «Kunst»und «Überlegung»Es ist dies eine der zentralen Passagen über den aristotelischen Begriff der «Erfahrung». Erfahrung entsteht aus der Vielzahl von Erinnerungen an denselben Gegenstand und ist in gewisser Weise die Grundlage für Kunst und Wissenschaft, nur dass diese sich auf das Allgemeine beziehen, die Erfahrung aber auf das konkrete Einzelne. Zum Zwecke des Handelns ist sie von großem Wert und treffsicherer als ein bloßes Hantieren mit Begriffen, wie Aristoteles mit einem Seitenhieb auf Erscheinungen in der Akademie anmerkt (Met. I 1, 981 a 21). Und doch stehen «Kunst» (bzw. «Können») und Wissenschaft höher, weil sie die Ursachen und Gründe ermitteln. Höchst charakteristisch für das Verständnis von Wissenschaft ist die Bemerkung, dass sich diese im Unterschied zur bloßen Erfahrung lehren lassen muss (Met. I 1, 981 b 7–10). Forschung und Lehre gehören für Aristoteles zusammen. In der typisch griechischen Art, alle
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