Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
Errungenschaften auf einen «ersten Erfinder» zurückzuführen, geht Aristoteles davon aus, dass die Menschen zunächst nur im Horizont ihrer Sinneswahrnehmungen lebten, dann aber jemand eine Kunstfertigkeit «erfand», die zunächst auf die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse und später auch auf den Genuss des Lebens gerichtet war, während erst danach die reinen, zweckfreien Wissenschaften aufkamen, so die Mathematik bei den Ägyptern. Die Skala reicht vom erfahrenen Handwerker über den Fachmann im Bereiche des Wissens und entsprechend über die «hervorbringenden» zu den «theoretischen» Wissenschaften. Deren Ursachen und Prinzipien bilden das Thema der Metaphysik
Das Wissen von diesen Prinzipien des Seins nennt Aristoteles «Sophia»was wir ganz unvollkommen mit «Weisheit» übersetzen. Aristoteles legt großen Wert darauf, dass es sich bei dieser «Weisheit» um ein Wissen von dem im höchsten Sinne Wissbaren handelt, und zwar um seiner selbst willen oberhalb der Welt der Zwecke und Handlungen.
Aber sie ist nicht losgelöst von dem Bereich des Handelns und des Veränderbaren, denn:
Sie erkennt, weswegen jedes Einzelne zu tun ist, denn das ist das Gute in jedem Einzelfall und, aufs Ganze gesehen, das Beste in der ganzen Natur (Met. I 2, 982 b 5–7).
Dass diese «Weisheit» selber nicht auf Zwecke und Handlungen bezogen ist, belegt Aristoteles durch einen Rekurs auf die «ersten Philosophen», bei denen am Anfang ein bloßes Staunenstand.
Denn weil sie staunten, beginnen die Menschen jetzt und begannen sie zuerst zu philosophieren, indem sie anfangs über die naheliegenden Seltsamkeiten staunten und dann in allmählichem Fortschritt sich auch über größere Dinge den Kopf zerbrachen, so über Erscheinungen an Mond, Sonne und den Gestirnen, und dann über die Entstehung des Alls (Met. I 2, 982 b 12–17).
Das ist deutlich eine Anspielung auf eine berühmte Stelle in Platons Dialog Theaetet :
Wirklich, das ist es, was dem Philosophen widerfährt, das Staunen. Denn es gibt keinen anderen Ursprung der Philosophie als diesen ( Theaetet , 155 D).
Dieses Staunen ist noch kein eigentliches Zweifeln, keine Selbstvergewisserung durch den Zweifel wie bei Descartes (dubito ergo sum, «ich zweifle, also bin ich»), sondern eine Verwunderung, die den Impuls auslöst, nach Erklärungen für etwas zu suchen, das im ersten Staunen unerklärlich scheint. Aristoteles stellt sich mit diesem Denkanstoß in die Tradition nicht nur Platons, sondern der Philosophie seit ihren Anfängen. Er sucht – und findet – eine Problemkontinuität von diesen Anfängen zu sich selbst.
Das zeigt sich besonders in der hier (Met. I 3) nur kurz, an anderer Stelle ( Physik II 3, 194 a 16–195 b 30) ausführlicher dargelegten Lehre von den vier Ursachen. Aristoteles kennt vier Ursachen bzw. Prinzipien: 1. Die «Substanz»die er auch mehrfach in seinem Werk «das, was es eigentlich ist»nennt. Er verwendet dabei einen von ihm geschaffenen, in seinem Werk mehrfach (z.B. in Met. VII 1030 a 2f.) verwendeten nahezu unübersetzbaren Kunstausdruck, der überaus kontrovers diskutiert und ganz verschieden mit «Wesenswas», «Wesensbegriff», «Was es heißt, dies zu sein», «das Was – zu sein – für etwas zu sein heißt», «Was es war zu sein» übersetzt wird, um nur einige Beispiele zu nennen.[ 3 ] Ich verstehe das Wortals ein sogenanntes definierendes Imperfekt und übersetze: «Das, was es eigentlich ist.» 2. Die MaterieHyle); der Stoff, der allem «zugrunde liegt»also die (später so genannte) causa materialis. 3. Der Ausgangspunkt der Bewegung (causa agens), der Anstoß, der einen Bewegungsimpuls auslöst. 4. Das «Worum – Willen»wie es Aristoteles wiederum mit einem Kunstausdruck formuliert, der Zweck als das auslösende Moment, also als causa finalis umgekehrt gedacht wie das Prinzip der auslösenden Bewegung.
Aristoteles ist nun der Ansicht, dass es außer diesen vier Ursachen keine weiteren Ursachen und Prinzipien für alles Seiende gibt. Er kann auch darauf hinweisen, dass keiner der früheren Philosophen eine andere Ursache namhaft gemacht hat (Met. I 7, 988 b 18). Damit ist der Rahmen für die Musterung der vorliegenden Theorien über die Problematik des Seins gelegt.
Diese Musterung ist nun so angelegt, dass zunächst die Lehren der Früheren von den Anfängen bis zu Platon im Zusammenhang referiert (Met. I 3, 983 b 6–6, 988 a 17) und in einem zweiten Teil kritisiert werden (Met. I 7, 988 b 18–9, 993 a 10).
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